Industrie-Kern: Lindener Eisen- und Stahlwerke
04. August 2025 | von Klaus PohlmannGeschichte ist nicht Vergangenheit: Wir tragen sie mit uns. Kein neuer Gedanke. Aber er führt dazu, hier erstmals ein Unternehmen vorzustellen, das es nicht mehr gibt: die Lindener Eisen- und Stahlwerke.
Wir schließen die Augen. Und sehen, von Süden kommend, über der von dunklen Gebäuden zerklüfteten Landschaft mit hoch aufragenden Schloten etwas heranfliegen. Nicht allzu hoch, silbrig schimmernd mit drei Schwingen.
Der Dreidecker gewinnt Höhe über einer müden Landschaft. So stellen wir uns das vor, in Linden, noch nicht Hannover, irgendwann 1919: Der Monate zuvor beendete Krieg hatte vier lange Jahre die Industrie angetrieben.
Die Hannoversche Waggonfabrik, kurz Hawa, die den silbernen Flieger baute, wuchs von knapp 1000 auf 3000 Mitarbeitende im letzten Kriegsjahr. Und sucht nun, wie viele andere, nach einem Weg in den Frieden.
“… Güte der Erzeugnisse fand bald Anerkennung”
Die Hawa mit ihrem Werksflugplatz lag ganz im Süden des Lindener Industriegürtels. Wir aber sind jetzt auf der anderen Seite, rund sechs Kilometer weiter nördlich. Auf dem Gelände der Lindener Eisen- und Stahlwerke AG, kurz: LES. Gießerei und Maschinenfabrik, gegründet 1872. Schnell sei danach die Zahl der Beschäftigten auf 80 gewachsen, heißt es in den Hannoverschen Geschichtsblättern, und „die Güte der Erzeugnisse fand bald Anerkennung und die Firma erlangte, später vor allem durch ihre Maschinen für die Zementindustrie, Weltruf.“
Drumherum um das Unternehmen mit gewissem Weltruf: die seit Mitte des 19. Jahrhunderts rasant wachsende Lindener Industrie. Die LES fügte sich in einen

bereits bedeutenden hannoverschen Industriezweig, heute würde man sagen: in ein Cluster. Zuvörderst natürlich in direkter Nachbarschaft die Eisen-Giesserey und Maschinenfabrik Georg Egestorff, später besser bekannt als Hanomag. Außerdem – allerdings nicht in Linden – die Hannoversche Eisengießerei und das Hannoversche Guß- und Walzwerk, in dem die Hof-Bronzegießerei aufging, die das Ernst-August-Denkmal vor dem hannoverschen Hauptbahnhof goß. In Hannover wurde im Juni 1869 auch der Verband Deutscher Eisengießereien gegründet, der vielleicht erste deutsche Industrieverband.
Zahnräder mit einem Durchmesser von fünf Metern oder mehr
Die Lindener Eisen + Stahl stellte Gussstücke für den Maschinen- und Schiffsbau her, Zahnräder, fünf Meter oder mehr im Durchmesser. Außerdem zum Beispiel hoch beanspruchte Verschleißteile für die Zement- und Schotterindustrie. Verwendet wurde ein eigener LES-Hartstahl. Außerdem baute das Unternehmen ganze Maschinen, zum Beispiel Pressen aller Art, bis zu solchen für die Schallplattenfertigung. Und Zerkleinerungsanlagen: für Schotterwerke, Steinbrüche, Kokereien.

Etwa 1920 kam der Guß von Armaturen hinzu. Zwischen 700 und 800 Mitarbeitende zählte die Belegschaft zu Spitzenzeiten. Überhaupt hatte das industrielle Herz Hannover-Lindens wieder dröhnend zu schlagen begonnen.
Neben Hanomag und Hawa gehörten auch Körting und etwas später die Wabco zur Metallfraktion in der Nachbarschaft, die sich bis zum Lindener Hafen zog. Während im Norden Lindens die Textilindustrie vorherrschte.
Die letzte Werkshalle wurde 2022 abgerissen
Nun aber die Augen auf. Geblieben ist von der Lindener Eisen + Stahl fast nichts. Von dröhnender Industrie seit langem keine Spur, es wirkt heute fast ländlich hier. 2022 wurde die letzte noch stehende Werkshalle abgerissen. Das habe sie wütend gemacht, sagt Stefani Wildung. Auch deshalb begann sie, sich mit der Geschichte des Unternehmens zu befassen. Zehn Jahre zuvor hatte Wildung ein Haus auf dem Werksgelände gekauft, vor dem wir jetzt sitzen. Aufwändig geklinkert, 1922 gebaut als Kantine und mit Sozialräumen und Werkswohnungen.
Verstreut stehen auch noch weitere LES-Gebäude: Villen, Verwaltung, Modellwerkstatt. Wildung renoviert ihren Klinkerbau, der noch im Frühjahr 1945 sein Dach durch einen Bombentreffer verlor, in Eigenregie. Vermietet Räume an ein Sportstudio, Werkstätten und Ateliers an Künstlerinnen und Künstler, Handwerker und Handwerkerinnen. Und hat eine ehemalige Garage als offenen Erinnerungsort eingerichtet. Die Wände sind voll mit Kopien von Schriftstücken oder Plakaten. Fast fühlt man sich an kriminalistische Ermittlungsarbeit erinnert, wie man sie aus Filmen kennt: „Hier muss ich noch einmal Fäden spannen, um die Verbindungen deutlich zu machen“, sagt Wildung. Namen, die Menschen dahinter, das ist es, was sie besonders bewegt: „Wie eng die Wirtschaft damals verflochten war.“
Gegründet wurde die LES noch als Lindener Eisengießerei von Georg Dickert, zeittypisch als Aktiengesellschaft. Dickert war Schwiegersohn von Constantin Nordmann. Maurer und Architekt, nach dem sowohl die Nordmannpassage in Hannovers Innenstadt als auch der Nordmannsturm im Deister benannt sind. Eine andere der Nordmann-Töchter heiratete den späteren Bauunternehmer Ferdinand Wallbrecht. Kaum überraschend also, dass noch vor den ganzen Zahnrädern, Pressen und Armaturen die frühe LES Metallsäulen für Gebäude goss. Und Gullydeckel.
Familiendinge: Caspar - Üxküll - Stauffenberg
Verflechtung allenthalben: An der Spitze des LES-Aufsichtsrat stand über Jahre Bernhard Caspar, Bankier in Hannover, jüdischen Glaubens. Und zeitweise auch Aufsichtsratsvorsitzender der Continental - wie sein Sohn Julius, und zwar bis 1938. Von dieser Familie ist LES-Forscherin Wildung besonders fasziniert: Nach dem Vater ist die Straße benannt, die am Werksgelände entlang führt. Aber allein nach einem Bild des Sohnes suchte sie bislang vergebens.
Ebenfalls einige Jahre im Aufsichtsrat: Nikolaus von Üxküll, Widerstandskämpfer und im Juli 1944 nach dem Attentat auf Hitler hingerichtet. Und man kann sich durchaus vorstellen, dass Üxküll, sofern ihn sein Mandat nach Hannover führte, Ende der 1920er Jahre hier seinen Neffen Claus Schenk von Stauffenberg besuchte. Stauffenberg, der das Attentat ausführte, war damals an die hannoverschen Kavallerieschule abkommandiert.
Es waren die Jahre, in denen es auch für die LES schwierig wurde. Die Dinge kamen ins Rutschen. Rote Zahlen in der heraufziehenden Wirtschaftskrise 1929: Man trete in die Reihe der mit Verlust abschließenden Stahlwerke ein, heißt es im Geschäftsbericht. Die Verflechtung mit der Braunschweigischen Maschinenbau-Anstalt wurde, weil nicht den Erwartungen entsprechend, wieder gelöst.
1932 dann das Vergleichsverfahren. Teile des Geländes wurden an die Orpil-Seifenwerke verkauft. Wobei sich hier die Nachkriegspräsidenten der IHK Hannover über den Weg gelaufen sein könnten: Orpil-Chef Franz Henkel stand ab 1945 an der IHK-Spitze, sein Nachfolger, der Misburger Zement-Unternehmer Christian Kuhlemann, war im LES-Aufsichtsrat. Ziemlich naheliegend, hatte doch die LES ihren weltweiten Ruf unter anderem mit Maschinen für die Zement-Industrie geschaffen.
Artilleriemunition und Seeminen
Die Abwicklung des Vergleichs oder der Insolvenz dauerte ziemlich lange, findet Stefani Wildung. Bis etwa 1936, und viele Dokumente seien als Staatsgeheimnis gekennzeichnet. Und auch in anderen Quellen findet dieser Teil der Unternehmensgeschichte nicht statt. Mag sein, dass mit neuen Eigentümern die Stahlwerke Teil der Rüstungsindustrie wurden. Während des Krieges jedenfalls lieferte die LES, jetzt als GmbH, unter anderem Artilleriemunition und Seeminen: Stefani Wildung kennt die einschlägigen Berichte eines Zwangsarbeiters.
Nach Kriegsende gab es Demontagepläne, die wurden aber nicht umgesetzt. Am Wiederaufbau des Werks beteiligt eine weitere, das Unternehmensbild prägende Persönlichkeit: Hansjürgen Riefkogel, der nach einem Jahr Gipsbett wegen Kinderlähmung mit nicht einmal 14 Jahren zur LES kam und dort bis zum Verkaufsleiter aufstieg.
Kurz gefasst die weitere Geschichte: 1952 wurde die LES Teil der Phönix-Rheinrohr-Gruppe, die wiederum im Thyssen-Konzern aufging. Was die Produktpalette anging, knüpfte man an die Blütezeit an: Stahlformguss für Zement- und Kalkwerke, Bergbau, für Walz- und Hüttenwerke, Teile für den Maschinen-, Schiffs- und Fahrzeugbau. Doch Mitte der 1960er Jahre war Schluss mit der Produktion. Ein Handelsstandort blieb bis 2004.
“Warum macht Hannover nicht mehr daraus?”
Von alldem habe sie nichts gewusst, als sie das Haus auf dem LES-Gelände kaufte, sagt Stefani Wildung heute. „Aber wenn man einmal in die Industriegeschichte eintaucht, dann ist man gefangen.“ Und: „Warum macht Hannover nicht mehr daraus?“
Die Erinnerung jedoch verrinnt. Wildung hat noch offen zugängliche Archivbestände vor Augen, bevor die LES-Halle abgerissen wurde: Jeder habe sich bedienen können. Sie tat es damals nicht. Stemmt sich aber jetzt dem Vergessen entgegen. Mit ihrem offenen Erinnerungsort und noch so vielen offenen Fragen.