Es war eine etwas tastende Diskussion am Eröffnungstag der Techtide. Ethik, Demokratie, Digitalisierung ist aber auch ein großes Thema, und es mag an der Größe des Themas und der Kürze der Zeit gelegen haben. Nicht an den auf dem Podium versammelten Köpfen jedenfalls.
Der Cybersicherheitsexperte Peter Leppelt ging gleich in die Vollen und verlangte, um den Herausforderungen des Internets zu begegnen, Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie bereits an den Schulen. Okay, das wird dann nicht so heißen, vielleicht eher Medienpädagogik. Aber Recht hat er. Denn es geht im Kern um nichts anders als die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr. Und vielleicht war es Konsens auf der Bühne, aber eben unausgesprochen, dass es hier etwas zu tun gibt. Denn im Internet wird nicht gelogen. Im Internet wird die Lüge kultiviert. Spätestens seit den zehn Geboten ein ethisches Problem. Wer wüsste das besser als Margot Käßmann, eine der prominentesten Theologinnen Deutschlands und ebenfalls auf dem Techtide-Podium.
Der Umgang mit der Unwahrheit: Das betrifft die großen gesellschaftlichen Fragen nach Demokratie, wie sie bei der Techtide-Eröffnung auf der Agenda standen. Aber Unternehmen nicht minder und unmittelbar, wenn man an Bewertungsportale für Produkte, Dienstleistungen oder auch die Arbeitgeberqualität denkt. Man darf nicht erst in den Hochschulen anfangen, Menschen das Rüstzeug an die Hand zu geben, um in einer digitalen Welt Wahres von Unwahrem zu unterscheiden, sagte Peter Leppelt. Dann erreicht man einen großen Teil schon nicht mehr, und davon wiederum ein Teil unterhält sich schließlich, so der Sicherheitsexperte, im Internet darüber, dass die Erde eine Scheibe ist. Dem ist nichts hinzuzufügen. Höchstens ein Suchmaschinen-Tipp: Um das Ausmaß dieses speziellen Problems zu erfassen, einfach mal flat earther eingeben. Dass Niedersachsens Digitalstaatssekretär Stefan Muhle darauf verwies, in Niedersachsen sei ab 2023 eine Stunde Informatik Pflicht ab Klasse 10, sollte wohl eher Widerspruch provozieren. Zumal, wenn der Unterricht, wie Margot Käßmann vermutete, eher technisch ausgerichtet sein werde.
Nun könnte man sagen, dass ja nicht das Internet die Lüge kultiviert, sondern dass Menschen an ihrem Ursprung stehen. Der Begriff Alternative Fakten ist ja auch eine menschliche Erfindung. Vermutlich jedenfalls: Grundsätzlich könnte er ja auch von einer Künstlichen Intelligenz stammen. KI, verbunden mit der Auswertung großen Datenströme, spielte in der Diskussion kaum eine Rolle. Lassen wir an dieser Stelle mal die große Frage der Beeinflussung von Demokratie beiseite. Aber Menschen können auch in anderer Hinsicht gesteuert werden: Was, wenn in einem Social-Scoring-System plötzlich der Kauf von Produkten mit bestimmten Merkmalen oder aus einem bestimmten Land oder eines Unternehmens negativ vermerkt wird? Weil eine politische Instanz, legitim oder willkürlich, das so entscheidet. Die Frage, ob das zu einem marktwirtschaftlichen System mit hoher Entscheidungsfreiheit des Einzelnen – auch mit der Möglichkeit, sich selbst zu schaden – passt, ist eine zutiefst ethische: Was wollen wir?
Die Forderung nach Medienpädagogik stellte auch Sascha Lobo in den Raum. Kann man getrost unterstreichen. Aber was ist mit den Medien? Hier ist man sofort bei der neuen Macht der Sozialen Medien und der Privilegien der Plattformen. Ganz einfach: Jeder Redakteur klassischer Medien übernimmt die Verantwortung nicht nur für eigene Beiträge, sondern für alle, die er veröffentlicht, bis hin zu jedem einzelnen Leserbrief – der im Übrigen auch höchstens ausnahmsweise anonym veröffentlicht würde. Für die sozialen Medien des digitalen Neulands gilt das derzeit nur eingeschränkt und im Wesentlichen als Selbstverpflichtung. Vielleicht hätte ein Vertreter eines klassischen Medienunternehmens der Diskussion gut getan. Die leiden ja gerade darunter, dass in der Pandemie viele die Qualität ihrer Nachrichten schätzen, die Anzeigenkunden sich aber lieber online tummeln, und dann vielleicht auch noch gerade dort, wo sie mit dem Stimmungskiller Corona nichts zu tun haben. Jemand aus einem Verlagshaus hätte vielleicht auch etwas sagen können zum Aspekt Influencer. Die Grenze zur Schleichwerbung, die von den Holzmedien, wie sie von den Neumedienmachern gerne mal abschätzig genannt werden, genau beachtet werden muss, wird für den neuen Berufsstand der Beeinflusser ja gerade von den Gerichten festgelegt. Und die Diskussion um ein neues Medienrecht, dass für alles eine neue gesetzliche Grundlage schafft, brandet ebenfalls jetzt auf. Hier wäre die Haltung von Sascha Lobo sicher spannend gewesen zu der Frage, ob wir für eine neue Medienära ein ganz neues Recht brauchen oder die bestehenden Kriterien für klassische Medien auf die neuen ausgedehnt werden sollten.
Zum Abschluss noch ein Aspekt: Realität. Schafft das Internet eine neue Realität? Oder ist es einzig wahre Realität? Weil es die ungeschminkte Wirklichkeit zeigt. Also die Nooshpäre – vereinfacht gesagt: die Summe dessen, was gedacht wird und in der Vorstellung die Erde umgibt wie die Atmosphäre – so abbildet, wie sie wirklich ist. Zur Realität gehören Wissen, Erkenntnis, Kommunikation und Verbindung ebenso wie Verschwörungstheorien und Hassreden, falls gewünscht im Schutz der Anonymität. Wenn das Internet den Menschen so widerspiegelt, dann muss man auch beim Menschen anfangen. Haltung entwickeln, das kam nicht von ungefähr von Margot Käßmann. Und man kann auch Peter Leppelt nur zustimmen: Soziale Probleme lassen sich nur sozial lösen, nicht technisch.
Zugegeben, das alles passte kaum in eine Podiumsrunde zur Techtide-Eröffnung mit nur überschaubarer Zeit. Deshalb wohl entstand der Eindruck einer vorsichtigen, tastenden Diskussion. Aber retten wir uns mit diesem Gedanken: Unter anderem zur Vertiefung dieser Aspekte ist die Techtide gedacht als Kristallisationspunkt der niedersächsischen IT-Szene, aber auch mit dem Anspruch, die gesellschaftliche Diskussion um die Digitalisierung genauso voranzutreiben wie die Digitalisierung selbst. In diesem Sinne ein Auftakt, der neugierig macht auf mehr.
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