„Perspektiven für den Wirtschaftsstandort Dorf“: Ein Wissenschaftlerteam der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) aus Göttingen unter Leitung von Professor Dr. Ulrich Harteisen hat sich im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts mit der wirtschaftlichen Entwicklung im ländlichen Raum beschäftigt. Im Interview verrät er, welche Maßnahmen die Unternehmen vor Ort stärken.
Vor der Corona-Pandemie galt Arbeit und Leben auf dem Land in den Augen vieler Betrachter als Auslaufmodell. Wird die Veränderung, die sich vielerorts abzeichnet, von Dauer sein?
Prof. Dr. Harteisen: Im Kontext der digitalen Transformation geht man von einer zunehmenden Entkopplung der Arbeit von Raum und Zeit aus. Das kann eine Chance für die ländlichen Räume sein. Mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Dorf stellt sich die Frage, ob und wie es gelingen kann, dass Erwerbsarbeit auch in Zukunft zumindest anteilig im Homeoffice stattfindet und damit immer öfter Leben und Arbeiten an einem Ort stattfinden kann. Auch gilt es darüber nachzudenken, für welche Unternehmen
gerade das Dorf ein geeigneter Standort sein könnte. Ob die Veränderungen, die sich aktuell in ländlichen Räumen andeuten, von Dauer sein werden und ob ländliche Räume tatsächlich nachhaltig an Vitalität und Attraktivität gewinnen, hängt allerdings nicht nur von der Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit ab. Die Corona-Pandemie hat uns deutlich vor Augen geführt, worauf es in der Krise ankommt: Eine solidarische Dorfgemeinschaft, eine gute Infrastruktur und ein attraktives naturnahes Umfeld sind neben der Möglichkeit im Dorf zu arbeiten die Stützpfeiler für krisenfeste und zukunftsfähige Dörfer. Gerade Unternehmen im Dorf sind auf einen dauerhaft attraktiven Wirtschaftsstandortangewiesen, an dem die technische und soziale Infrastruktur in guter Qualität vorhanden ist und an dem sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohl fühlen. Die Corona-Pandemiehat in sehr kurzer Zeit die Wahrnehmung ländlicher Räume positiv verändert. Nun ist es an der Zeit, diesen Imagewandel zu nutzen und mit einer ambitionierten Förderpolitik für ländliche Räume in der kommenden EU-Förderperiode die technische und soziale Infrastruktur in den ländlichen Räumen zukunftsfest zu machen.
Von welchen Rahmenbedingungen hängt es ab, dass sich Unternehmen im ländlichen Raum positiv entwickeln oder sich sogar dort neu ansiedeln?
Harteisen: In unserer Befragung von mehr als 600 Unternehmen in 19 Dörfern in Südniedersachsen im Rahmen des Forschungsvorhabens „Perspektiven für den Wirtschaftsstandort Dorf“ wurden als wichtigste Standortmerkmale eine verlässliche Internetverbindung und die Verfügbarkeit und Qualifikation von Arbeitskräften genannt. Das überrascht zunächst nicht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Unternehmen in Bezug auf diese Standortfaktoren noch erheblichen Handlungsbedarf sehen. Neben der technischen Infrastruktur sind aber auch die sogenannten weichen Standortfaktoren, wie etwa die Bindung an den Standort (lokale Verankerung) und die Vernetzung in Dorf und Region mitentscheidend für die Entwicklung der Unternehmen. Bemerkenswert ist die Standorttreue von Unternehmen jeder Größe: Über zwei Drittel sind seit mindestens zehn Jahren am heutigen Standort und über 90 Prozent der befragten Unternehmerinnen und Unternehmer beurteilten die Lebensqualität im Dorf als gut oder eher gut. In diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung ist, dass die Ansprechpartner auf lokaler Ebene bekannt und unkompliziert erreichbar sind. Gefragt nach den wichtigsten Ansprechpartnern bei Fragen der Unternehmensentwicklung werden an erster Stelle Bürgermeister und Gemeindeverwaltungen, aber auch die Hausbanken genannt.
Oft wird der Digitalisierung zusammen mit der Breitbandversorgung eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Land zugeschrieben – wo macht sich das aus Ihrer Sicht bemerkbar? Gibt es konkrete Beispiele aus unserer Region?
Harteisen: Unsere Forschung zeigt, dass die Digitalisierung sicher ein sehr wichtiger Faktor für die Entwicklung ländlicher Räume ist, aber eben nicht der einzige. Für die Entwicklung ländlicher Räume und insbesondere von Dörfern ist es entscheidend, dass die technische und die soziale Infrastruktur vor Ort stimmt. nternehmerinnen und Unternehmer, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden immer auch schauen, ob vor Ort die Daseinsvorsorge (Nahversorgung, Bildungsangebote, Medizinische Versorgung) gewährleistet ist und ob das Dorf ein attraktives Freizeit- und Kulturangebot bietet. Leben und Arbeiten sind zwei Seiten einer Medaille, die in der Dorf- und Regionalentwicklung zusammengedacht werden müssen, denn nur, wenn die Dörfer auch wieder vermehrt als attraktiver Lebensraum wahrgenommen werden, wird es wieder mehr Menschen geben, die hier auch ihr Unternehmen aufbauen möchten. Bei der Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Dorf gilt es diese Mehrdimensionalität in den Blick zu nehmen.
Was würden Sie ländlichen Kommunen an konkreten Maßnahmen empfehlen, um ihre Wirtschaft vor Ort zu stärken?
Harteisen: Aus der Forschung konnten wir folgende drei Handlungsempfehlungen zur Entwicklung des Wirtschaftsstandortes Dorf ableiten:
– Ländliche Gemeinden sollten ein Standortmarketing entwickeln, welches das Dorf als Wohn- und Wirtschaftsstandort vorstellt, denn Unternehmerinnen und Unternehmer schauen auf harte und zunehmend auch auf weiche Standortfaktoren. Nur dann, wenn eine ländliche Gemeinde auch eine entsprechende soziale Infrastruktur aufweist, wird der Ort als attraktiver Lebensraum bewertet und kann dann auch ein attraktiver Standort für ein Unternehmen sein.
– Zur Verbesserung der Kommunikation mit Akteuren der Wirtschaft sollten auf Gemeindeebene Strukturen einer lokalen Wirtschaftsförderung aufgebaut werden, denn die Gemeinden sind wichtige und oft erste Ansprechpartner bei Fragen der Unternehmensentwicklung. In enger Absprache mit der regionalen Wirtschaftsförderung kann so die Qualität der Beratung weiter verbessert werden.
– Die Siedlungsstruktur von Dörfern ist bis heute dadurch gekennzeichnet, dass Wohnen und Arbeiten häufig räumlich im engen Verbund stattfindet. Viele Unternehmerinnen und Unternehmen bewerten diese enge räumliche Verknüpfung als Vorteil. Deshalb sollten im Rahmen der Bauleitplanung in Dörfern auch weiterhin Mischgebiete, in denen Wohnen und Arbeiten im räumlichen nebeneinander möglich ist, vorgesehen werden. Die strikte Trennung von Wohngebieten und Gewerbegebieten entspricht nicht der Tradition des Dorfes und schwächte den Wirtschaftsstandort Dorf. Die Forschung zeigt, dass die ländlichen Räume mit ihren Dörfern und kleinen Städten ein oft unterschätzter Wirtschaftsstandort mit Entwicklungspotenzial sind. Die positiven Entwicklungsansätze können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ländlichen Räume gerade auch in Südniedersachsen weiterhin vor großen Herausforderungen stehen. Für eine nachhaltig soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung ist daher auch weiterhin eine ambitionierte Förderpolitik für die ländlichen Räume wichtig.
Die Fragen stellte Georg Thomas.
- Ideen für die Zukunft – Ottenstein: „Noch lange nicht fertig“
- Vorreiter bei Nachhaltigkeit: der Flecken Steyerberg
- Hessisch Oldendorf: Fördern und begleiten
- Lemförde: Marissa Park sorgt für Impulse
Georg Thomas
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