In diesem Frühjahr berichteten Experten aus Finnland im Rahmen einer viruellen Veranstaltung des in Hannover ansässigen Skandinavischen Wirtschaftsvereins über den Stand der digitalen Gesundheitswirtschaft in Finnland. Und der ist beeindruckend! Das Grußwort der Veranstaltung kam von der finnischen Botschafterin in Berlin: Grund genug, bei Anne Sipiläinen noch einmal nachzufragen.

 

Frau Sipiläinen, seit über 20 Jahren gibt es in Finnland schon die digitale Patientenakte, vernetzt mit anderen Behörden und Einrichtungen. Die Daten stehen zum Beispiel anonymisiert zu Forschungszwecken zur Verfügung. Sorgen Sie sich darum, was mit Ihren sehr persönlichen Informationen passiert?

Neue Technologien und digitale Dienste sind wichtige Instrumente zur Verbesserung des Zugangs zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen für die Bürger. Erfolgreiche digitale Dienste und Systeme erfordern eine unterstützende Infrastruktur. Aus diesem Grund baut Finnland ein Ökosystem für Innovationen für Gesundheit und Wohlbefinden auf. Der öffentliche Sektor spielt hierbei eine entscheidende Rolle, insbesondere indem er die notwendigen Rechtsvorschriften und den Zugang zu Datenbeständen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ermöglicht.

Finnland ist die rechtlichen und ethischen Fragen proaktiv angegangen, um eine verantwortungsvolle Entwicklung voranzutreiben. Alle medizinischen Unterlagen in Finnland sind in elektronischem Format und digital zugänglich. Sie liefern reale Daten, mit denen Ideen in konkrete Lösungen umgesetzt werden können.

Im Jahr 2019 haben wir ein Gesetz über die sekundäre Nutzung von Gesundheits- und Sozialdaten verabschiedet. Dieses Gesetz garantiert einen sicheren Zugang zu Behörden, Instituten und Unternehmen, damit diese die Daten für Forschung, Entwicklung und Innovationen sowie für Aufgaben in den Bereichen Bildung und Wissensmanagement nutzen können.

Auf der Grundlage dieses Gesetzes haben wir auch einen nationalen One-Stop-Shop für die Daten eingerichtet. Diese nationale Datengenehmigungsbehörde heißt Findata und erteilt Berechtigungen für die verschiedenen Datenregister.

Das Biobank-Gesetz ermöglicht eine schnellere Wirkstoffentdeckung und klinische Studien, indem Zugang zu Daten und Proben gewährt wird. Das Gesetz über die sekundäre Nutzung von Gesundheits- und Sozialdaten gewährt einen verbesserten Zugang zu Daten und schützt gleichzeitig die persönlichen Daten der Patienten.

Wir müssen uns der neuen regulatorischen Anforderungen bewusst sein, die durch die fortschreitende digitale Transformation im Gesundheits- und Pflegebereich entstehen, insbesondere durch den zunehmenden Einsatz von Datenanalyse und künstlicher Intelligenz. Vertrauen ist ein Schlüsselelement in der Gesellschaft und es gilt, dieses Vertrauen zu schützen.

Ich glaube, dass das transparente Vorgehen der Behörden und die traditionell guten digitalen Fähigkeiten der Bevölkerung Gründe dafür sind, dass Finnen ein großes Vertrauen in die Datensicherheit und -nutzung haben. Die Daten sind schon seit Jahren online.

Die Anbieter von Sozial- und Gesundheitsdiensten stellen durch Selbstkontrolle des Datenschut-zes und der Datensicherheit eine sachgemäße Datensicherheitspraxis sicher, zum Beispiel durch eine Überwachung der Protokolle. Durch eine Zertifizierung wird sichergestellt, dass die eingesetzten Informationssysteme seitens der Systemlieferanten die Sicherheitsanforderungen erfüllen. Auch der Zugang zu den eigenen Daten ist wichtig. Natürlich gibt es Risiken, aber Risi-ken gibt es auch mit Gesundheitsdaten, die nicht online sind. Niemand will, dass seine Daten – und besonders die Gesundheitsdaten – in falsche Hände fallen, auch die Finnen nicht.

 

Die Finnen sind neuer Technologie gegenüber sehr aufgeschlossen. Woran liegt das?

Finnland ist in Europa führend bei der Nutzung neuer Technologien. Wir haben lange in die Ausbildung von Experten sowie in Forschung und Entwicklung, die digitale Infrastruktur und die Förderung von Innovationen auf diesem Gebiet investiert. Der Anteil der digitalen Technologie am Bruttoinlandsprodukt unseres Landes ist sehr hoch und zum Beispiel beim Einsatz künstlicher Intelligenz sind wir vielen europäischen Ländern voraus. Health Tech ist derzeit unser am schnellsten wachsendes High-Tech-Exportsegment. Viele der Innovationen in Finnland nutzen künstliche Intelligenz, 3D und XR, also Extended Reality, und finnische Start-ups dieser Branche gehören zu den attraktivsten Investitionszielen für Risikokapitalgeber.

Die Finnen sind traditionell offen für die Einführung neuer Technologien. Neue Technologien – seit den ersten NMT-Handys von Nokia – haben trotz unseres abgelegenen Standortes, der großen Entfernungen und der geringen Bevölkerungsdichte in unserem Land vieles möglich gemacht. In den neunziger Jahren erließen öffentliche Entscheidungsträger Regeln zur Förderung der Digitalisierung, zugleich priorisierten Bildungseinrichtungen die Vermittlung von Fähigkeiten, die für ein globales digitales Unternehmen erforderlich sind.

Im vergangenen Jahr stand Finnland zum dritten Mal in Folge an der Spitze des DESI-Indexes zur Messung des Digitalisierungsgrades und war damit das am stärksten digitalisierte Land in Europa: 76 Prozent der Finnen verfügten über grundlegende oder gute digitale Fähigkeiten. Im Vergleich der EU-Durchschnitt: 58 Prozent.

Auch der finnische öffentliche Sektor setzte frühzeitig auf neue digitale Technologien. Finnland hat beispielsweise das AI-Programm Aurora implementiert, das maschinelles Lernen zur Verbesserung der öffentlichen Dienste einsetzt. Die öffentlichen Dienste Finnlands sind und werden weitgehend digital, wobei die Bürger nicht gezwungen sind, digitale Kanäle zu nutzen. 

 

Die Offenheit der Menschen ist ja nur ein Baustein für Innovation, ein anderer wichtiger sind die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Wie ist Finnland hier aufgestellt, wo sehen Sie Unterschiede zu Deutschland?

Finnland fördert schon seit Langem die Bereiche Bildung, Forschung und Entwicklung sowie Entwicklung des Innovationsystems besonders intensiv. Wir haben schon früh erkannt, dass Finnland als ein kleines Land am Rande Europas nur dann Erfolg haben kann, wenn es die Kompetenzen seiner Bürgerinnen und Bürger voll ausschöpft und dazu fähig ist, durch Innovationen etwas Neues zu schaffen. Beispielsweise unsere Wirtschaftsförderungsorganisation Business Finland, die Innovationsfinanzierung, Exportförderung und Tourismusförderung unter einen Hut bringt, ist international fast ohne Vergleich.

Finnland wurde schon oft zu einem der innovativsten Länder der Welt gekürt, zum Beispiel im Bloomberg Innovation Index 2019. Das ist teilweise schon auf die hohe Qualität der Bildung zurückzuführen – liegt doch Finnland bei den PISA-Studien Jahr für Jahr weit vorn. Auch bei den internationalen PCT-Patentanmeldungen – Global Innovation Index 2019 – rangiert Finnland an der Spitze; als eine Stärke Finnlands wird oft vor allem die enge Zusammenarbeit zwischen den Hochschulen und der Industrie hervorgehoben; und in den letzten Jahren hat sich Finnland zu einer europäischen Wiege für Start-ups entwickelt. In Bezug auf den Zugang von Unternehmen zu Risikokapital steht Finnland nach den Vereinigten Staaten und Israel an zweiter Stelle: Obwohl die Wirtschaft unter der Coronakrise gelitten hat, haben die Fonds für Wachstumsunternehmen gleichzeitig neue Rekorde aufgestellt.

Obwohl es bei den Investitionen in Forschung und Entwicklung im Vergleich zu den Boomjahren einen gewissen Rückgang gegeben hat, gehören die Forschungs- und Entwicklungsausgaben Finnlands nach wie vor zu den größten in Europa, zurzeit 2,7 Prozent des BIP. Das Ziel der Re-gierung ist es, die Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Innovation bis 2030 auf 4 Prozent des BIP anzuheben.

Finnlands Stärken im Vergleich zu Deutschland sind der gute Zugang von Start-ups zu Risikokapital; Aufgeschlossenheit der Bürgerinnen und Bürger für neue Innovationen und Technologien; die weit vorangeschrittene Digitalisierung und das damit verbundene Know-how sowie das hohe Niveau der Bildung.

Lesen Sie hier den zweiten Teil des NW-Interviews mit Anne Sipiläinen.

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