Noch bis zum 6. Dezember ist in der IHK Hannover eine Ausstellung zur Sozialen Marktwirtschaft zu sehen. Zusammengestellt wurde sie von der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Deren Vorsitzender Professor Dr. Nils Goldschmidt äußert sich im zweiten Teil des NW-Interviews zur Konkurrenzfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft angesichts neuer Systemkonkurrenz und zur Ethik in der Wirtschaft.
Am 2. Dezember ist Nils Goldschmidt zu Gast in der IHK Hannover, gemeinsam mit Regionalbischöfin Dr. Petra Bahr. Beide sind Mitglieder des Deutschen Ethikrates. Mehr zu dieser Veranstaltung finden Sie hier.
Herr Professor Goldschmidt, im ersten Teil des Interviews haben Sie gesagt: Die Soziale Marktwirtschaft war ein absolutes Erfolgsmodell, sie ist eine Ressource. Aber jetzt gibt es ja auch neue Konkurrenz, insbesondere zum Beispiel die sehr stark gelenkten Marktwirtschaften wie insbesondere China. Ist die Soziale Marktwirtschaft da konkurrenzfähig?
Goldschmidt: Aber sicherlich! Natürlich kann ich, im Scherz gesprochen, als Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft auch nichts anderes sagen. Aber wir müssen, glaube ich, zwei Dinge auseinanderhalten. Der Aufstieg Chinas ist zum einen auch eine Erfolgsgeschichte der Marktwirtschaft. Die Öffnung hin zu Märkten hat dazu geführt, dass dort heute weniger als ein Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut lebt. Mitte der 80er Jahre waren es noch über 40 Prozent. Und das ist für jeden einzelnen Menschen wichtig, der aus dieser absoluten Armut herausgekommen ist. Es ist aber nicht ein Erfolg der staatlichen Lenkung, sondern es ist ein Erfolg der Öffnung hin zur Marktwirtschaft.
Zum anderen: China hat ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, das noch ungefähr bei einem Drittel dessen liegt, was wir in Deutschland haben. Wenn sich ein Land entwickelt, wenn Menschen besser ausgebildet werden, wenn Menschen auch reicher werden und ganz andere Möglichkeiten haben, dann bin ich eigentlich ganz hoffnungsfroh, dass sich ein Modell wie die Soziale Marktwirtschaft als das überlegenere erweisen und eingefordert wird. Es geht mit Blick auf den Menschen eben immer auch um deren personale Würde, dass Menschen nicht als bloßer Produktionsfaktor gesehen werden. Wir dürfen uns nicht blenden und zu sehr verunsichern lassen von Entwicklungslinien, die scheinbar ein Erfolg sind, aber letztendlich nicht den Weg in Richtung Sozialer Marktwirtschaft, die wirtschaftlichen Erfolg mit Menschenwürde verbindet, gehen.
Sie sind nicht nur Volkswirt, sondern auch Theologe. Als die Soziale Marktwirtschaft entstand, haben die christliche Soziallehre und der Ordoliberalismus zusammengewirkt. Ist so eine Verbindung heute noch relevant in einer immer säkulareren Umgebung und bei einer schwindenden Bedeutung der Kirchen?
Goldschmidt: Auf jeden Fall. Die Bedeutung des Christentums war für die Herausbildung der Sozialen Marktwirtschaft sicherlich bedeutsam. Wir müssen, obwohl ich katholischer Theologe bin, aber anerkennen, dass es insbesondere der protestantische Glaube war, der am Anfang die Soziale Marktwirtschaft mitgeprägt hat. Die meisten Gründungsväter und Gründungsmütter der Sozialen Marktwirtschaft waren protestantisch verwurzelt.
Der Freiburger Kreis (eine regimekritische Gruppe insbesondere von Professoren der Universität Freiburg während der NS-Zeit, Anm. d. Red) hat aus einer christlichen Überzeugung heraus das Regime abgelehnt und an Ideen gearbeitet, die später die Soziale Marktwirtschaft prägen sollten.
Es geht um den Menschen. Wirtschaft ist ein Mittel, aber nie das Ziel einer Wirtschaftsordnung, sondern es geht darum, den Menschen die Möglichkeit zu geben, wie ich bereits gesagt habe, ein gutes Leben führen zu können. Diese Sichtweise ist ganz sicher auch ein christliches Erbe des Konzepts. Und man sollte auch deutlich machen, dass die Soziale Marktwirtschaft von Anbeginn eine normativ geprägte Ordnung ist. Konzept ist. Die Soziale Marktwirtschaft ist eben nicht nur eine Wirtschaftsordnung, sondern immer auch eine Gesellschaftsordnung.
Es geht um das gute Leben. Nicht nur um eine effiziente Produktion. Sich heute auf gemeinsame Werte zu einigen, wird nicht einfacher: Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Es gibt viele verschiedene Werte in unserer Gesellschaft, die zum Glück sehr bunt und sehr vielfältig geworden ist. In der auch andere Ansichten, andere Religionen eine Rolle spielen. Aber die normativen Aspekte – Was ist ein gutes Leben? Was bedeutet Gerechtigkeit? Wie können wir das verwirklichen – sind bis heute ganz wesentlich für den Zusammenhalt der Geellschaft. Und natürlich kann auch eine katholische Soziallehre oder eine protestantische Sozialethik hier weiterhin Impulse setzen. Sie ist eine Stimme unter vielen Stimmen – aber eine wichtige Stimme.
Wobei ich glaube – obwohl mir diese Einschätzung nicht wirklich zusteht -, die Kirchen könnten etwas offensiver sein, gerade zu sozialwissenschaftlichen Themen auch Position zu beziehen. Weil sie bei diesen Themen bis heute glaubwürdige Akteure sind.
Wenn Sie diese Zwischenfrage noch erlauben: Sie haben gesagt, die Kirchen müssten sich vielleicht noch offensiver aufstellen. Mein Eindruck ist aber, dass zum Beispiel gerade im akademischen Bereich die katholische Soziallehre eher auf dem Rückzug ist. Selbst traditionsreiche Institute sind, soweit ich das verfolgt habe, eher in Sachen Familienfragen unterwegs und nicht mehr im angestammten Bereich der Wirtschaft. Ist es tatsächlich in der Tendenz so, dass die katholische Soziallehre schwächer wird? Auch die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle in Mönchengladbach wird ja eingestellt, zum Beispiel.
Goldschmidt: Das ist so und das bedauere ich absolut. Ich glaube, das ist keine gute Strategie der Kirche. Ich denke, es wäre cleverer, wie gerade gesagt, sich in diesen Fragen zu positionieren. Auch bei den Antworten auf die Herausforderung der soziale Frage Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war das so und die Kirche wurde gehört. Deutschland ist eines der der Mutterländer für die katholische Soziallehre. Denken wir an Oswald von Nell Breuning, an Joseph Höffner. Denken wir auch an jetzige Vertreter wie Reinhard Marx. Das sind Personen, die katholische Soziallehre geprägt haben, und da ist Kirche glaubwürdig. Die Kirche hat in vielen Feldern an Glaubwürdigkeit verloren. Aber sie ist eine wichtige und eine glaubwürde Stimme, wenn es darum geht, den Wert und die Würde des Menschen innerhalb einer modernen, marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft zu betonen.
Tatsächlich war der erste Chefredakteur dieser Zeitschrift, der Niedersächsischen Wirtschaft, Johannes Niggemann, in der katholischen Soziallehre verwurzelt. Und ich habe ihn auch ein bisschen in Verdacht, dass er schon die Quelle ist für Gedanken, die ab 1946 in der IHK Hannover aufgetaucht sind. In denen von einer lebendigen Synthese zwischen freier Initiative und sozialem Wollen in der Wirtschaft die Rede ist. War das ungewöhnlich für diesen Zeitpunkt? Oder war die Soziale Marktwirtschaft damals allgemeines Gesprächsthema, wurde überall darüber gesprochen?
Goldschmidt: Ich finde es wirklich beeindruckend, dass bereits in einer solchen frühen Phase in Hannover solche Gedanken zu finden sind. Und es wäre spannend, dem noch mal vertieft nachzugehen.
De facto muss man aber sagen, dass die Idee einer Sozialen Marktwirtschaft, eines Ausgleichs zwischen freiheitlichem Tun und sozialem Wollen, damals keine große Resonanz in der Breite der Bevölkerung hatte. Die Soziale Marktwirtschaft war kein Selbstläufer. Sondern musste initiiert werden. Es bedurfte des Wollens von Alfred Müller-Armack, von Ludwig Erhard, um das Konzet politisch umzusetzen.
Der Großteil der Bevölkerung hatte sicherlich eher die Überzeugung, dass wir Richtung Sozialismus gehen müssen. Dass eine Marktwirtschaft, wie man sie in der Weimarer Republik erlebt hat, gescheitert ist und dass das nicht der Weg sein kann. Und selbst als 1948 im Juni dann die Währungsreform und die Preisfreigabe kamen, waren ja die Alliierten, insbesondere die Amerikaner, durchaus kritisch dagegen dem gegenüber handstreichartig durchgeführten Preisfreigabe.
Und wenn Sie sich das Wirken von Alfred Müller-Armack anschauen: Es war ein Werben um soziale Marktwirtschaft. Es wurden, und das zeigen wir ja in der Ausstellung, Werbefilme gemacht für die soziale Marktwirtschaft, die in Kinos gezeigt wurden. Die haben wir ja auch in der Ausstellung. Und man macht keine Werbefilme, wenn das Produkt eh schon Selbstläufer ist.
Oder wenn Sie denken an die Frankfurter Allgemeine Zeitung Die Zeitung wurde gegründet, eben um insbesondere Werbung auch für die Soziale Marktwirtschaft zu machen. Das hat eine Dissertation jüngst noch mal ganz deutlich herausgearbeitet.
Damit machen Sie historisch noch einmal ein neues Fass auf, das auch die IHK Hannover berührt. Denn ein Anstoß zur Gründung der Frankfurter Allgemeinen kam von der Wirtschaftspolitischen Gesellschaft von 1947, in der etwa der damalige IHK-Vizepräsident Kurt Pentzlin im Vorstand saß, neben insbesondere Ludwig Erhard. Und auch eine Reihe weiterer Hannoveraner waren in der Gesellschaft aktiv. Aber jetzt noch eine letzte Frage. Das ist die nach der Ethik in der Wirtschaft. Was trägt die zum wirtschaftlichen Erfolg bei? Und Sie werden jetzt mit Sicherheit nicht sagen, dass sie nur ein Klotz am Bein ist.
Goldschmidt: Nein, ganz sicher kein Klotz am Bein. Sondern wir müssen das gute Miteinander wieder lernen. Und das versuchen wir auch mit der Ausstellung zu zeigen. Ethik, das klingt so abstrakt, so moralin. Aber das gute Miteinander ist eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass Gesellschaft und das Wirtschaft gelingen. Alfred Müller-Armack hat in diesem Zusammenhang von sozialer Irenik gesprochen. Eirene: Das griechische Wort für Frieden, für Versöhnung steht bei ihm im Vordergrund. Seine Überlegung: Wir werden keinen wirtschaftlichen Erfolg haben, wenn wir als Gesellschaft unversöhnlich miteinander umgehen. Für ihn und seine Zeit waren das eben die Strömungen von Liberalismus, von Kommunismus, von Protestantismus und Katholizismus, die scheinbar unvereinbar nebeneinander standen. Und Müller Armack argumentiert: Ja, das sind unterschiedliche Strömungen, das sind unterschiedliche Positionen. Wir werden nicht einer Meinung sein, aber wir müssen miteinander auskommen. Wir müssen miteinander Kompromisse schließen, damit wir gemeinsam das Ziel erreichen, dass jeder nach seiner Vorstellung eben auch ein gutes Leben führen kann. Und ich glaube, dieser Gedanke, dass wirtschaftlicher Erfolg notwendigerweise auch ein soziales Miteinander braucht, der ist heute viel dringender, als wir uns das vorstellen. Gerade wenn wir sehen, wie sehr unsere Gesellschaft als polarisiert und radikalisiert wahrgenommen wird.
Das bringt uns zurück an den Anfang: Wir müssen in die soziale Marktwirtschaft investieren – investieren insbesondere in den sozialen Zusammenhalt. Nur wenn wir sozialen Zusammenhalt haben, nur wenn wir freundlich miteinander umgehen, wenn wir den anderen wertschätzen, wenn wir nicht versuchen, Institutionen, die sich bewährt haben, auszuhöhlen, nur dann kann Soziale Marktwirtschaft ihre positiven Eigenschaften entfalten. Und das Spannende ist, das man auch empirisch zeigen kann, dass diejenigen Länder, die ein hohes Maß an sozialem Zusammenhalt, an sozialer Kohäsion haben, auch die wirtschaftlich erfolgreicheren sind. Wir dürfen Ethik und gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur als ein bisschen Soße über ein marktwirtschaftliches Gericht ansehen. Sondern wir müssen verstehen, dass der Zusammenhalt, dass das Soziale eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass wir überhaupt wirtschaftlichen Erfolg haben.
Zum ersten Teil des Interviews mit Nils Goldschmidt kommen Sie hier.
Die Fragen stellte Klaus Pohlmann.