Südniedersachsen sichtbar machen, national wie international: „Wir müssen unsere Stärken ins Schaufenster stellen“, betonte IHK-Vizepräsidentin Birgitt Witter-Wirsam vor über 500 Gästen beim Jahresempfang der IHK Hannover in Göttingen. Eine der regionalen Stärken: Life Science in Unternehmen, Forschung und durch Start-Ups.
Sichtbar werden mit einer gemeinsamen Marke: Das Thema bewegt aktuell Südniedersachsen. IHK-Vizepräsidentin Birgitt Witter-Wirsam verwies auf erste Erfolge, die auch Forderungen der Wirtschaft entsprechen. Sie machte deutlich, dass die Landkreise Göttingen und Northeim sowie die Stadt Göttingen auf dem richtigen Weg sind, wenn alle drei in diesem Jahr Geld für die Entwicklung einer gemeinsamen bereitstellen. „Wir werden weiter auf das Tempo drücken, damit das Kirchturmdenken in der Region nach und nach der Vergangenheit angehört“, kündigte Witter-Wirsam an. Die SüdniedersachsenStiftung werde die ersten Kampagnen organisieren und die Marke damit sichtbar machen. Die Vizepräsidentin rief aber auch die Unternehmen auf, sich an der Kampagne zu zu beteiligen – direkt oder als Mitglied der Stiftung: „Auch wir sind gefordert.“
Landesstrategie für die Lebenswissenschaft gefordert
Stärken stärken: Witter-Wirsam forderte eine Life-Science-Strategie für Südniedersachsen, die vom Land nicht nur mitgetragen, sondern vorangetrieben wird. Dabei geht es um die auch als Lebens- oder Biowissenschaften bezeichneten Bereiche, die auch für die Wirtschaft eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Diesen Bereich in Südniedersachsen weiter auszubauen, sei auch aus Sicht des Landes sinnvoll: Eine starke Region komme Niedersachsen zugute, sagte Witter-Wirsam: „Wir wollen hier in Südniedersachsen aus Hannover keine Almosen.“ Vielmehr sei ein klares Bekenntnis des Landes erforderlich. Und: „Wir bieten als IHK unseren Schulterschluss und unsere Unterstützung an!“
Sorgen bereitet Witter-Wirsam die Gefahr, dass Unternehmen in einer aktuellen Herausforderungen nicht nur die Region, sondern Deutschland insgesamt den Rücken kehren könnten. Solche Stimmen mehren sich, so Witter-Wirsam in ihrer letzten Neujahrsrede als IHK-Vizepräsidentin. Das betreffe den Maschinenbau, ebenso die chemische Industrie, die Papier- und Holzverarbeitung, den Fahrzeugbau sowie die Elektroindustrie. Die Gründe sind wenig überraschend: Energiekosten, Steuerbelastungen und den unsichere Rahmenbedingungen. Hier müsse man ansetzen, machte Witter-Wirsam deutlich, um eine schleichenden De-Industrialisierung vor allem Richtung EU-Ausland zu stoppen. Mit ihren Forderungen lag Witter-Wirsam exakt auf der Linie von IHK-Präsident Gerhard Oppermann, der in Göttingen ebenso wie in Hannover die IHK-Positionen deutlich machte. Beide sprachen als Negativ-Beispiel das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz mit der befürchteten weiteren Verschärfung dieser Regelungen auf EU-Ebene an. Bürokratie als Wachstumsbremse: Witter-Wirsam forderte ausdrücklich ein Bürokratie-Moratorium, außerdem eine Anpassung der Klimaschutzziele auf ein realisierbares Maß.
Verlässlichkeit ist Pflicht
Die IHK-Vizepräsidentin lenkte in der Göttinger Lokhalle den Blick in diesem Jahr ganz besonders auf die Bauwirtschaft: „Im Wohnungsbau brennt die Hütte!“ Alarmsignale gebe es seit langem, sagte sie und wies auf die massiv rückläufigen Baugenehmigungen hin – in einer Situation, in der auf der anderen Seite die Wohnungsnot gerade in den Großstädten massiv zunimmt. Witter-Wirsam vermisst Maßnahmen nach dem Wohnungsgipfel auf Bundesebene und kritisierte, dass Entscheidungen wie etwa die angekündigten Aufstockungen beim Geschwindigkeitsbonus bereits wieder zurückgenommen würden. „Lösungen liegen auf dem Tisch“, sagte Witter-Wirsam: bessere Abschreibungsmöglichkeiten, eine robuste Förderung für energieeffiziente Häuser nach EH-55-Standard, Freibeträge bei der Grunderwerbssteuer und einfachere Vorschriften zum Bauen auf Landesebene. Insbesondere forderte sie nicht nur attraktive Rahmenbedingungen, sondern vor allem Verlässlichkeit für die Bauwirtschaft.
Die IHK-Vizepräsidentin kritisierte, dass zwischen 2020 und 2023 über 20 Prozent und damit 11 von 52 Kommunen in den Landkreisen Göttingen und Northeim die Grundsteuer B angehoben hätten. Umso mehr richtete sie einen dringenden Appell an die Städte und Gemeinden, die Reform der Grundsteuerreform im nächsten Jahr aufkommensneutral und ohne Steuererhöhung umzusetzen.
Positiv hob Witter-Wirsam hervor, dass der Südniedersachsen Innovationscampus, kurz SNIC, weitergeführt wird. Aber auch in einer von Wissenschaft und Forschung geprägten Region müsse der Wissenstransfer noch ausgebaut werden. Dazu dienen nicht nur neue Formate wie „Wirtschaft trifft Universität“, das von IHK und Kreishandwerkerschaft aufgelegt wurde. In diesem Jahr stand auch der Jahresempfang der IHK in Göttingen selbst unter diesem Aspekt: Drei Start-Ups aus dem Bereich Life Science stellten sich vor.
Mit Life Science groß werden
Tatjana Kasper, Geschäftsführerin der Life Science Factory Management GmbH, stellte fest, dass „ein Viertel der Arbeitsplätze in unserer Region im Bereich Life Sciences unterwegs sind“ Im Bereich der roten und grünen Lebenswissenschaften gebe es in den drei südniedersächsischen Landkreisen Göttingen, Northeim und Osterode zahlreiche Player, die sich mit Gesundheitsprävention, Medikamentenentwicklung, moderner Landwirtschaft, Alternativen zu Tierversuchen, Biotech oder Medizin beschäftigten. Mit seiner Infrastruktur habe die Region gute Voraussetzungen, um diesen Bereich zu stärken. Dazu sei eine Gesamtvision nötig. Ferner gelte es, „Brücken zwischen Start-Ups und etablierten Unternehmen zu bilden.“ Damit erreiche man auch Strahlkraft für alle Branchen und werde attraktiv für Arbeitskräfte. Darüber hinaus gebe es in dem Bereich auch zahlreiche Start-Ups. Exemplarisch stellte sie drei auf der Bühne vor:
Beim Göttinger Startup Digity GmbH dreht sich alles um die menschliche Hand – und zwar um Exoskelette. Viola Bartels und Claudio Garcia, beide Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens, berichteten, dass 16 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig mit den Fingern arbeiten – und das nicht im Büro, sondern an den Produktionslinien oder in anderen Bereichen. Über ein Drittel der Arbeitsunfälle betreffen die Hände und die Finger“ erklärte Garcia. „Weil wir auf textile Handschuhe vertrauen, die sich eigentlich seit Jahrzehnten nicht mehr richtig weiterentwickelt haben. Das kann man besser machen. Wir vertrauen Exoskeletten“. Bei Verletzungen hätten diese Menschen ein großes Problem. Das Unternehmen habe sich zur Aufgabe gemacht, unsere Hände immer gesund, produktiv und geschützt zu halten. Im Team arbeiten Experten aus Orthopädie, Ingenieurswesen, Medizin und Arbeitsmedizin und aus der Wirtschaft.
Das Start-Up Glitther mit Virginie Clément-Schatlo an der Spitze, hat begleitende, diagnostische Instrumente für die die Glioblastomtherapie – also einen äußerst bösartigen Gehirntumor – entwickelt und validiert. Das Projekt der studierten Biologin wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Zusammen mit ihrem Mann hat sich die Mutter von fünf Kindern für Göttingen – und gegen Seattle – entschieden. Hauptgründe dafür waren die Universität und die Lebensqualität der Stadt insbesondere auch für Familien.
Die VineForecast GmbH stellt Winzern ein bezahlbares Vorhersage-Tool zur Verfügung, das ihnen mittels Wetterdaten und Machine Learning als ein Frühwarnsystem für mögliche Krankheitsbefälle in ihrem Weinberg dient. Das fünfköpfige Göttinger Start-Up arbeitet bereits mit rund 600 Unternehmen zusammen. Das Unternehmen hat zwei Investoren aus dem Mittelstand an seiner Seite. „Weniger Pflanzenschutz reduziert das Insektensterben und wenn wir weniger Pestizide in unserem Apfel haben, ist das auch schon mal was wert“, berichtete Gründer und Geschäftsführer Richard Petersik.
/ Barbara Dörmer