Mit der Schau „Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur. El Lissitzky: Das Selbstbildnis als Kestner Gesellschaft“, die am 7. Juli abends eröffnet wird, spürt das hannoversche Ausstellungshaus den Gründungsmomenten seiner mehr als hundertjährigen Geschichte und seiner avantgardistischen Mission nach. Dabei spielte auch der frühere IHK-Präsident Fritz Beindorff eine besondere Rolle.
Mit der Ausstellung am dritten Domizil ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte, dem umgebauten Goseriedebad im Zentrum Hannovers, kehrt die Kestner Gesellschaft zu ihren Anfängen zurück: Im Fokus der zentralen Schau des Jahres steht Eleazar „El“ Lissitzky. Der russische Avantgardist – Maler, Architekt, Fotograf, Designer, Autor – lebte und arbeitete Anfang der 1920er Jahre in Hannover und hatte bei der Kestner Gesellschaft 1923 seine erste institutionelle
Einzelausstellung. Adam Budak, seit Ende 2020 Direktor der Kestner Gesellschaft, stellt sich mit der Ausstellung „Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur. El Lissitzky: Das Selbstbildnis als Kestner Gesellschaft“ bewusst in die Tradition seines Vorgängers Alexander Dorner, der das Museum von 1923 bis 1924 leitete und danach lange Jahre Direktor des Provinzialmuseums Hannover – dem späteren Landesmuseum – war. „In diesem Jahr oszillieren wir Gegenwart und Zukunft“, so Budak. „In der Mitte haben wir diese wichtige Ausstellung, mit Lissitzky als Hero. Das Jahr begonnen haben wir mit der tschechischen Künstlerin Klára Hosnedlová. Sie ist jetzt 33 Jahre alt und zeigt bei uns die erste institutionelle Einzelausstellung in ihrer Karriere. Bisher ist sie eher unbekannt, ähnlich wie Lissitzky unbekannt war. Progressive, unbekannte Künstlerinnen und Künstler zu zeigen, sieht die Kestner Gesellschaft nach wie vor als Aufgabe.“
Um die Tradition der Kestner Gesellschaft zu verstehen, muss man einen langen Blick zurück werfen: Ende 1916, inmitten der schwierigsten Kriegszeit, wurde in
Hannovers Prachtstraße – der Königstraße 8 – die „Kestner-Gesellschaft E.V.“ gegründet. Zwar gab es mit dem seit 1832 existierenden Kunstverein Hannover bereits ein Ausstellungshaus – die älteste Kunstinstitution Hannovers. 1889 wurde das Museum August Kestner eröffnet. Warum also ein weiteres Haus für Kunst? Das kulturelle Klima in der „Provinzstadt Hannover“ damals wird als stocksteif beschrieben. Stadtdirektor Heinrich Tramm war Mitglied im Kunstverein.
„Doch hatte die Toleranz des damals 60-jährigen Stadtdirektors gegenüber neuen Entwicklungen in der Kunst seine Grenzen“, geht aus der „Kestnerchronik“
hervor. Daraufhin beschlossen der Direktor des Kestner-Museums und Direktor der Städtischen Galerie Brinckmann, Carl Schuchhardt, sowie der Maler
und Direktor der Kunstgewerbeschule, Wilhelm von Debschitz, einen neuen Verein ins Leben zu rufen. „Wir wollen […] jene Dinge bringen, die im Rahmen des hiesigen Kunstvereins überhaupt nicht oder ganz unzuverlässig gebracht werden. Wir wollen jene Dinge bringen, die sich über den landläufigen Kunstbetrieb herausheben und die sich anbieten, anregend und aufklärend zu wirken“, heißt es in einem Brief vom Oktober 1916 an den Rittmeister Eugen Passmann, Gründungsstifter der Kestner Gesellschaft.
Die Mission
Im Katalogvorwort zur ersten Ausstellung, die man taktisch klug mit Max Liebermann, einem engen Freund Tramms, bestritt, formulierte der erst 27-jährige Direktor, Dr. Paul Erich Küppers: „Mit unseren Ausstellungen […] wollen wir den Einwohnern der Stadt Hannover Kunstwerke vorführen, die […] dazu geeignet sind, das Verständnis an Kunst zu vertiefen und das Interesse und die Freude an der Kunst zum Nutzen des einzelnen wie der Künstler selber zu beleben. Die Dinge […] sollen nicht einfach als angenehmer Zeitvertreib wirken, sondern vielmehr als Anreger und – nötigenfalls – als Erreger. […] hoffen wir doch Historisch-Gewordenes ebenso zu bringen wie Werke bekannter lebender Größen und in die Zukunft weisende Schöpfungen sich noch entwickelnder junger Kräfte. Wir wollen damit nicht eine Abstempelung für gut und schlecht, für wertvoll und minderwertig vornehmen, sondern nur einen Gesichtswinkel bieten, aus dem heraus ein nachdenkliches Publikum, das Kunstwerke wirklich erfassen und genießen möchte, sich selber Klarheit verschaffen und ein Urteil bilden kann.“
Unter den 22 Gründungsstiftern waren einflussreiche Unternehmer der Stadt, etwa der Keksfabrikant Hermann Bahlsen, der Zeitungsverleger August Madsack,
der Fabrikant August Sprengel und der Pelikan-Chef und spätere IHK-Präsident Fritz Beindorff. Rund 70 Personen aus Wirtschaft, Kunst und Gesellschaft umfasste die Liste der Gründungsmitglieder. Bald nach der Gründung stellten die ersten Künstlerinnen und Künstler in der Kestner Gesellschaft aus, etwa Paula Modersohn (1917), Emil Nolde (1918) oder Paul Klee (1919). Darüber hinaus bot die Kestner Gesellschaft eine Bühne für Konzerte, Vorträge und Lesungen. Unter der Leitung von Dr. Paul Erich Küppers und seiner Frau Sophie Küppers etablierte sie sich als Ort des kulturellen Austauschs. „In den nur sechs Jahren seiner Amtszeit bis zu seinem Tod war es ihm gelungen, die Gesellschaft zu einem für die moderne Kunst tonangebendem Institut in Deutschland zu machen“, heißt es in der Kestner-Chronik.
1922 wurde Eckart von Sydow Direktor. Ihm gelang es, El Lissitzky nach Hannover zu holen. Es war die erste institutionelle Einzelausstellung des russischen Künstlers. Sie markierte seine bahnbrechende Position als Ansager des neuen Vokabulars, das die formale Sprache der Kunst revolutionierte, sowie seine Rolle als Konstrukteur eines institutionellen Denkens, das auf der wissenschaftlichen und erfahrungsbasierten Wahrnehmung und dem innovativen Ansatz der Ausstellungsarchitektur, den Strategien der Inszenierung und einem umfassenden Verständnis des künstlerischen Schaffens beruht. „Lissitzky war sehr jung, 33. Er hat hier durch diese Ausstellung eine besondere Beziehung zu Hannover entwickelt“, berichtet Budak. „Und er hat hier Sophie Küppers kennengelernt,
die Witwe des 1922 verstorbenen ersten Museumsdirektors Dr. Paul Erich Küppers. Sie wäre eigentlich die Nachfolgerin geworden“, so Budak. El Lissitzky
und Sophie Küppers heirateten später. Wegen der sich zuspitzenden Bedingungen im Land – Lissitzky war Jude – verließ er Deutschland 1926, seine Frau folgte ihm wenige Monate später, nach Moskau. Die Kestner-Gesellschaft würdigt in ihrer neuen Ausstellung auch Sophie Küppers für ihre tragende Rolle in der Kestner-Gesellschaft, indem sie ihr eine Stimme gibt. So „spricht“ Sophie Küppers am Anfang der Eröffnung der neuen Lissitzky-Schau zu den Besucherinnen und Besuchern.
Die erste Edition
Nach seiner ersten Ausstellung bei der Kestner Gesellschaft 1923 erarbeitete El Lissitzky gratis eine Mappe mit acht Lithografien, die die Kestner Gesellschaft an Kunstliebhaber verkaufte. „Die Mappe ist so berühmt geworden, sie ist heute beispielsweise im MoMA (Museum of Modern Art, New York) zu sehen“, berichtet Budak. Die Mappe verkaufte sich schnell, es folgte eine zweite. Damit waren die Kestner-Editionen geboren, die es bis heute gibt. Als Lissitzky in Hannover schwer an Lungentuberkulose erkrankte, ermöglichten ihm Ärzte und Freunde einen Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium. Aber die Schweiz verlangte eine Garantie für den monatlichen Lebensunterhalt des Kranken. „Durch Dr. Beindorff, der Lissitzkys Arbeiten sehr bewunderte und einige von ihnen erworben hatte, erhielt Lissitzky von der Firma Günther Wagner (Anm. der Redaktion: aus der später Pelikan hervorging) Reklameaufträge, für die ein Monatsgehalt von 300 Mark festgesetzt wurde. Dadurch war ein beträchtlicher Teil der Aufenthaltskosten in der Schweiz gesichert“, heißt es in der Kestnerchronik.
Bei den Aufträgen handelte es sich um die später berühmt gewordenen Werbeposter für Tinte und andere Produkte der Marke Pelikan. Auch Alexander Dorner, von 1923 bis 1924 und dritter Direktor der Kestner Gesellschaft, pflegte gute Kontakte in die internationale Kunstszene. Als seine entscheidende Leistung gilt die zusammen mit Justus Bier als Leiter der Kestner Gesellschaft seit 1930 aufgebauten Installationen zum neuen Raumverständnis der Moderne. Dazu gehörten das Abstrakte Kabinett von El Lissitzky, das seit April als Nachbau wieder im Sprengel-Museum in Hannover gezeigt wird, und der Raum der Gegenwart von László Moholy-Nagy.
Was ab Juli gezeigt wird
Mit „Der neue Mensch, der Ansager, der Konstrukteur“ würdigt die Kestner Gesellschaft die bedeutenden Tatsachen ihrer institutionellen Geschichte. Die Ausstellung betont die bahnbrechenden und visionären Aspekte, die der damalige Direktor und Kurator Alexander Dorner sowie andere Vertretende der Avantgarde, die Anfang der 1920er Jahre in Hannover aktiv waren, zu dieser Zeit entwickelten. Und sie untersucht das lang anhaltende Erbe dieser Zeit und ihre Auswirkungen auf den Museumsdiskurs, insbesondere im Hinblick auf Dorners Begriff des „lebendigen Museums“ und El Lissitzkys „imaginäre Räume“, in denen das Kunsterlebnis persönlicher, intensiver und multidimensionaler werden sollte, passend zum Leben eines neuen, modernen Menschen, der in einer sich ständig verändernden Welt voller Kontraste lebt.
Konzipiert als institutionelles Selbstporträt eines prophetischen Künstlers, besteht die Ausstellung aus Archivmaterial und historischen Positionen, die in Konfrontation mit der dekonstruktiven und revisionistischen Lesung des modernistischen Paradigmas durch zeitgenössische Künstler gesetzt werden, mit Arbeiten von: Michelangelo Antonioni, Willi Baumeister, Beaster, Johanna Billing, Martin Boyce, Max Burchartz, Heinrich Dunst, the next Enterprise, Fernanda Fragateiro, Assaf Gruber, Paul Harrison & John Wood, Lajos Kassák, Marlena Kudlicka, Marysia Lewandowska, Felipe Mujica, László Moholy-Nagy, Paulina Ołowska, László Peri, Prinz Gholam, Florian Pumhösl, Susanne Sachsse, Wieland Schönfelder, Kurt Schwitters, Edik Steinberg, Katja Strunz, Nikolai Michailowitsch Suetin. „Die Ausstellung ist ein bisschen wie ein Manifest. Mit der Präsenz der jungen Künstlerinnen und Künstler zeigen wir, wie aktiv Lissitzky heute noch ist“, sagt Adam Budak. „Ich wollte diese Legacy fortsetzen, diese legendären 20er Jahre. Das ist genau das,
was ich mache, wenn ich über Kestner rede oder über Dorner – eine Fadenfigur für kuratorische Praxis und neues Museumsdenken. Er war verbunden mit der Kestner Gesellschaft, er war hier in Hannover. Es könnte nicht besser passen.“
Wirtschaft als tragende Säule
Bis heute sind Vorstand und Kuratorium der Gesellschaft vorwiegend mit Unternehmerinnen und Unternehmern, die meisten aus Hannover, besetzt. Heidelinde Gerhold, Gesellschafterin der GETEC-Gruppe, ist seit 2021 erste Vorsitzende, Nord/LB-Chef Thomas Bürkle ist zweiter Vorsitzender. Kuratoriumsvorsitzender ist Torsten Leue (Talanx), weitere Mitglieder sind etwa Volker Alt (Sparkasse Hannover), Thomas Düffert (Madsack), Karin Hardekopf (Günter Papenburg) oder Dr. Susanna Zapreva (Enercity). Die Namen sind in der Eingangshalle des Museums auf Acryl gedruckt zu lesen. „Die Vorstandsmitglieder funktionieren als Multiplikatoren, die uns dabei helfen, diese Institution zu führen“, so Budak. Und zwar nicht nur ideell, sondern vor allem
auch finanziell. Das Land Niedersachsen fördert die Kestner Gesellschaft mit 700 000 Euro im Jahr. 2400 Mitglieder und 260 Fördermitglieder tragen einen
weiteren Teil zur Finanzierung bei. Die Ausstellungen selbst werden zum Großteil von Wirtschaftsunternehmen und deren Stiftungen finanziert. Die Liste der
Firmenpartner und -förderer umfasst knapp 30 Unternehmen, die meisten haben ihren Sitz in Hannover.
El Lissitzky, Marcel Duchamp, Andy Warhol, Rebecca Horn, Santiago Sierra, Barbara Kruger, Daniel Richter, Thomas Ruff, Guerrilla Girls: Die Kestner Gesellschaft hat in ihrer langen Geschichte mehr als 700 Gruppen- und Einzelausstellungen ausgerichtet. Immer mit dem Ziel, die aktuell relevante, internationale Kunst ihrer Zeit zu zeigen – als Anreger und nötigenfalls als Erreger.