Erster Mittelstandsdialog der Landesregierung nach der Pandemie: Seit 2019 war Pause. Damals traf man sich am Ende eines Jahrzehnts, das gerade für Niedersachsen kontinuierliche Fortschritte gebracht hatte, sagte Ministerpräsident Stephan Weil jetzt in Göttingen. Heutet beherrschen Krisenthemen die Tagesordnung.
Energie – was sonst in diesen Tagen? Versorgungssicherheit und Preise für Strom und Gas sind für Unternehmen heute überlebensentscheidend. Und damit im Sommer 2022 unvermeidlich Themen beimn Mittelstandsdialog der Landesregierung in Göttingen, organisiert von der niedersächsischen Landesregierung, der IHK Hannover und der Handwerkskammer Hildesheim-Südniedersachsen. Rund 140 Unternehmerinnen und Unternehmer waren gekommen, um mit Ministerpräsident Stephan Weil zu diskutieren.
Niemand hat eine Glaskugel
IHK-Vizepräsidentin Birgitt Witter-Wirsam machte die Lage, in der viele Unternehmen gerade stecken, nur allzu deutlich: Wenn jetzt eine Vertragserneuerung ansteht, ist angesichts der dramatisch steigenden Strom- und Gaspreise ein Abschluss zu solchen Konditionen noch vernünftig oder schon ein fataler Schritt für das Unternehmen? Um das richtig zu beurteilen, würde man eine Glaskugel benötigen, „und die habe ich nicht“, sagte dazu Stephan Weil. Damit bliebt das Thema Energieversorgung in den nächsten Wochen und Monaten beklemmend, aber ungelöst im Raum.
Weil erinnerte allerdings auch an aktuell positive Entwicklungen. Der Füllstand der Gasspeicher zum Beispiel: Unmittelbar vor dem Göttinger Mittelstandsdialog hatte sich das Landeskabinett mit Klaus Müller ausgetauscht, dem Chef der Bundesnetzagentur. Niedersachsen, so der Ministerpräsident, sei mit Blick auf den nötigen Druck im Gasnetz durch die Nähe zu den Einspeisepunkten an der Küste auch in einer vergleichsweise günstigen Lage. Und auch bei der Flüssiggas-Infrastruktur, die später auch für Wasserstoff genutzt werden soll geht es voran. Trotz allem: Vor dem nahenden Winter bleibt angesichts teils erschreckender Prognosen vielen nur das Abwarten darauf, wie schlimm es wirklich kommt.
So wenig wie möglich an Wirtschaftssubstanz verlieren
Von einer Krise in die andere: Wie in der Pandemie, werde man auch in der Energiekrise einen aktiven Staat brauchen, erklärte Stephan Weil. Mit allen Konsequenzen auch für den Landeshaushalt. Ziel sei, „dass so wenig wie möglich an Wirtschaftssubstanz vernichtet wird.“ Dazu werde man sich weiterhin so eng wie möglich mit der Wirtschaft austauschen. Dazu habe sich der regelmäßige zweiwöchentliche Austausch, wie er in der Corona-Krise eingeführt wurde und an dem auch die IHK Hannover beteiligt ist, bestens bewährt.
Auf jeden Fall soll Niedersachsen gestärkt aus der aktuellen Krise herauskommen, als Energieland Nummer eins in Deutschland.
Stellenwert der beruflichen Bildung deutlich stärken
Wohl auch deshalb nahmen andere Themen beim Mittelstandsdialog noch mehr Raum ein. Allen voran: Fachkräfte. Und das insbesondere mit Blick auf den gesellschaftlichen Stellenwert der beruflichen Bildung. „Nur mit Akademikern allein werden wir die Zukunft nicht bewältigen“, rief Handwerkskammer-Präsident Delfino Roman. Und traf damit ohne Zweifel einen Nerv der Gäste des Mittelstandsforums. Vor allem wehrten sich die Unternehmerinnen und Unternehmer gegen den schlechten Ruf einer Ausbildung, der sogar in der Berufsberatung vermittelt werde. Und das betrifft nicht allein das Image, sondern auch die Einordnung in die Bildungslandschaft insgesamt: Wenn nach OECD-Maßstäben es als Bildungsabstieg gilt, wenn Kinder beispielsweise von Ärzten eine Lehre machen, werde man nicht weiterkommen, kritisierte ein Teilnehmer des Mittelstandsdialogs. Handwerkskammer-Präsident sprach in einer streckenweise emotional geführten Diskussion das Selbstverständnis insbesondere der gymnasialen Bildung an, die Jugendlichen auf ein Studium vorbereiten zu wollen und nicht auf eine berufliche Ausbildung. Zustimmung von Stephan Weil: Für betriebliche Praktika müsse an den Gymnasien ein Bewusstsein entwickelt werden.
Auch die Unterrichtsversorgung mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Bildungsniveau insgesamt wurde von den Unternehmerinnen und Unternehmern in Göttingen kritisiert. Stephan Weil merkte dazu an, dass die Lage bei den Berufsschulen sich aktuell verbessert habe, räumte aber Probleme insbesondere im Bereich der Real-, Haupt- und Oberschulen ein.
Den Förderdschungel endlich lichten
Birgitt Witter-Wirsam sprach als IHK-Vizepräsidentin ein weiteres Thema an: das Zuviel an Bürokratie. Dazu hatte sie sich einen Bereich herausgepickt, in dem es eigentlich um die Unterstützung von Unternehmen geht: Witter-Wirsam prangerte einen Dschungel an Fördermitteln an, in dem sich gerade kleine und mittlere Unternehmen immer schwerer zurechtfänden. Besonders drastisch: Ein Teil der Fördermittel werde allein durch die Anträge aufgebraucht, insbesondere wenn man eigens Beratungseinrichtungen einschalten müsse. Die IHK-Vizepräsidentin forderte, gerichtet an den Ministerpräsidenten, auch Veränderungen bei der NBank als Förderinstitut des Landes.
„Da ist zu viel Bürokratie drin“
Witter-Wirsam forderte auch eine klare Festlegung im Spannungsfeld zwischen dem Ausbau der Erneuerbaren Energien einerseits und Umweltauflagen andererseits. Bürokratie hemmt, und: „Wir stehen uns selbst im Weg“, sagte sie. Zustimmung aus dem Publikum mit einem konkreten Beispiel: Bis eine Fotovoltaikanlage tatsächlich in Betrieb gehen konnte, habe das Genehmigungsverfahren zwölf Monate gedauert – und jetzt drohten schon wieder neue Hürden. Grundsätzliches Statement der IHK-Vizepräsidentin aus Sicht der Wirtschaft: „Wir wollen, wir können – aber den Rahmen muss die Politik setzen.“ Und einen Stoßseufzer während des Göttinger Mittelstandsdialogs, bezogen auf die Situation insgesamt und nicht nur auf einzelne Planungs- oder Genehmigungsverfahren, wird Stephan Weil nicht überhört haben: „Da ist zu viel Bürokratie drin.“