Es sind keine unbeschwerten Tage, in denen die Hannover Messe nach zwei Ausnahmejahren die Rückkehr auf das Messegelände Ende Mai plant. Und das im Jubiläumsjahr: Seit 1947 blickt der Hermeskopf auf die Stadt, beflügelt Innovationen – und manchmal wächst die Messe dabei über sich hinaus.
Update 7. April: Wasserstoff-Preis ausgeschrieben
Natürlich: Um Neues, um das Morgen geht es eigentlich bei den allermeisten Messen. Auch, als vor 75 Jahren erstmals eine Exportmesse für die deutschen Unternehmen in der britischen und amerikanischen Zone stattfand, war das ein Schritt, um die Zukunft zu gewinnen. Und das in Hannover – gerade erst Landeshauptstadt geworden, aber ohne die lange Messetradition wie in Köln, Frankfurt oder Leipzig. Düsseldorf war noch im Rennen, aber man entschied sich für Werkshallen in Laatzen als Keimzelle der später weltweit größten Industriemesse.
Dort also sollten deutsche Unternehmen gut zwei Jahre nach Ende des Weltkriegs zeigen, dass und was sie wieder produzieren können. Dabei war aber erstmal keinesfalls technischer Vorsprung das Maß aller Dinge, sondern schlicht Wettbewerbsfähigkeit – „einen Überblick über die Leistungs- und Liefermöglichkeiten unserer Wirtschaft geben“, hieß es im April 1947 in dieser Zeitschrift, als die Exportmesse angekündigt wurde.
Wobei die Diskussionen sich vor allem um die Möglichkeiten drehten, überhaupt liefern zu können, falls denn im Ausland Interesse am deutschen Angebot bestünde. Wenn also der erhoffte Impuls für die darniederliegende Industrie möglich wäre – würde sie dann in einer Mangel- und Zuteilungswirtschaft überhaupt liefern können?
IHK Hannover unter den Gründern
Dieser Zweifel begleitete die Vorbereitung der Exportschau, bis sie am 18. August eröffnet wurde. Wobei offenbar erst zwei Tage zuvor die Messegesellschaft offiziell gegründet wurde – fast so, als habe man das vergessen angesichts der schwierigen Lage im Nachkriegsdeutschland. Auf der Gründungsurkunde findet sich auch der Name des hannoverschen Unternehmers Eduard Bergmann, der als Vizepräsident für die IHK Hannover die Messe mit aus der Taufe hob. Natürlich neben den großen Anteilseignern Land Niedersachsen und Stadt Hannover, die die Deutsche Messe AG bis heute tragen.
Was passierte, als sich dann in Laatzen erstmals die Tore öffneten, das beschrieb der Mitte vergangenen Jahres verstorbene Zeitungsredakteur und Zeitzeuge Dieter Tasch als Erstürmung des Paradieses, als Märchenwunderland aus dem Nichts. Über 700?000 Menschen bestaunten in drei Wochen, was da alles ausgestellt war.
Aber schieben wir diesen ersten Ansturm samt der Geschichten um Fischbrötchen und ein weinähnliches Getränk, das nahezu legendäre Catering 1947, beiseite: Innerhalb weniger Jahre folgte der atemberaubende Aufstieg einer Veranstaltung, die schon bald in Deutsche Industrie-Messe umbenannt wurde. Und die sich auch sonst schnell wandelte. Vor allem jedoch wurde sie größer und größer. Schon zwei Jahre nach der Premiere wurde die Messe zweigeteilt, in eine allgemeine und eine technische Ausstellung. Der Anteil der Industrie wuchs, man sprach schnell von der größten technischen Schau, die je gezeigt wurde.
Wenn Neid das höchste Kompliment ist: Wie sonst sollte man den Vorstoß anderer Messestädte werten, von dem Messechronist Dieter Tasch berichtet? Man wünschte sich Anfang der 50er Jahre von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, per Dekret die hannoversche Veranstaltung nach Branchen aufzuspalten, auf dass andere Standorte auch etwas abbekommen. Dabei war gerade erst die Automobilindustrie von Hannover nach Frankfurt gezogen.
Der Innovationswettlauf beginnt
Es dauerte tatsächlich kein Jahrzehnt, bis Hannover nicht mehr nur Mustermesse deutscher Produktion war, sondern Schauplatz des Innovationswettlaufs. Die deutschen Unternehmen zeigen, in welchem Ausmaß sie Entwicklung betreiben, heißt es beispielsweise im Vorbericht zur Messe 1957. Und weiter: „Umgekehrt trifft unsere Industrie in Hannover auf Spitzenleistungen ausländischer Industriewerke. Die Messe wirkt damit beflügelnd für einen technischen Wettbewerb und die technische Weiterentwicklung.“ Anfang der 60er Jahre werden die Hochschulen und Universitäten auf die Messe geholt, 1977 erlebt die Innovationsschau Forschung und Technologie ihre Premiere. Auf die angewandte Forschung mit ihrer starken Präsenz ist man in Hannover stolz, das machte im März Messechef Jochen Köckler beim Ausblick auf 2022 deutlich. Und zu Recht, bestätigt Professor Gerd Wassenberg, der die Hannover Messe seit langem begleitet und das Forum Technologietransfer organisiert.
Mit dem Hermes Award wurde 2004 – fast ist man geneigt zu sagen: erst dann –auch ein Preis für die innovativste in Hannover gezeigte Neuheit geschaffen. Wer ihn gewinnt, steht bei der Messeeröffnung im Rampenlicht, alles in allem ist die Unterstützung für den Sieger rund 100?000 Euro wert. Er zählt damit zu den höchstdotierten Technologiepreisen weltweit. Dass ihn vor allem deutsche Unternehmen gewonnen haben – 2010 zum Beispiel der Garbsener Laserspezialist LPKF oder zwei Jahre später Phoenix Contact mit einem starken Standbein in Bad Pyrmont –, sollte man nicht als Alleinstellung deutscher Innovationskraft überschätzen: Hannovers Messemacher versuchen seit Jahren, auch bei den Bewerbungen um den Hermes Award die Internationalität zu steigern. Beim Ringen um Aussteller und Besucher aus aller Welt haben Corona und jetzt auch der Krieg in der Ukraine für Rückschläge gesorgt. Wobei im vergangenen Jahr versucht wurde, mit einem ausschließlich digitalen Konzept dagegenzuhalten, nachdem 2020 die Industrieschau erstmals abgesagt werden musste.
Abspaltung sorgt für Größe
Messehallen als Arena für den Innovationswettlauf, gegenseitiger Ansporn, technologischer Wettbewerb: Das bleibt nicht aus, wenn man auf die weltweite Konkurrenz auf engstem Raum zusammenholt, ob in Hannover oder anderswo. Und für die deutsche Wirtschaft, umso mehr für Niedersachsen und die Region heißt das, einmal im Jahr den Stand der Technik fast vor die Haustür gestellt zu bekommen – für manche in S-Bahn-Entfernung. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil: Im Jahr 2007 Heckmann zitierte der damalige Messechef Sepp D. Heckmann fast triumphierend einen Zeitschriftenbeitrag aus den Vereinigten Staaten, der forderte: „What we need is a Hannover Fair USA.“ Man hätte selbst gerne das, was Hannover bietet – eine umfassende Präsentation von Hochtechnologie auf dem Stand der Dinge zum Anfassen vor Ort: Man hätte gerne eine Hannover Messe in Amerika gehabt.
Mindestens zweimal jedoch wuchs Hannover noch über sich hinaus, wurde mehr als ein Schaufenster technischer Innovation und Arena des industriellen Leistungsvergleichs: Die Messe wurde zur Bühne und zur Plattform für Entwicklungen, die Wirtschaft und auch Gesellschaft grundlegend veränderten.
Da wäre zum einen die CeBIT, ursprünglich Teil der Industriemesse und dann auf eigene Beine gestellt. Auch andere Bereiche wurden von der hannoverschen Industrieausstellung abgespalten. Aber die CeBIT war anders, sie war gewaltig, ein Solitär. Sie machte Hannover einmal im Jahr zum Nabel der Informationstechnik weltweit, zeitweise konkurrenzlos. CeBIT, das war die Digitalisierung. Die Messe zelebrierte die Verzwergung der Hardware, erst bei der Größe der Geräte, dann in der Bedeutung gegenüber Software und Service. Sie präsentierte den Höhenflug des PCs: In eigenen Arenen wurden neue Generationen von Betriebssystemen vorgestellt. Fast jedes Jahr ein neuer Trend,
ob Internet oder mobile Telefonie. CeBIT: das war spätestens um die Jahrtausendwende digitale Innovation bis in jedes Haus. Die Grenzen zwischen beruflicher und privater Computernutzung verschwammen, Hannover wurde zum Magneten für alle, woran auch die als Ventil gedachte kurzlebige CeBIT Home nichts änderte.
Ahnen konnte man das nicht, als die Fachmesse für Bürotechnik 1986 selbstständig wurde. Hätte man das in den Sand gesetzt, erinnerte sich der langjährige CeBIT-Chef Hubert-H. Lange, wäre es beruflich das Ende für die damaligen Messe-Vorstände gewesen. Man hat nicht: Nach leichten Startproblemen hob die CeBIT ab, schwang sich zu immer neuen Rekorden bis zu den 830?000 Besuchern des Jahres 2001.
Die IT-Vordenker, sie kamen fast alle. Unvergessen Scott McNealy, als Chef von Sun Microsystems einer in der langen Reihe der hochkarätigen Sprecher bei CeBIT-Eröffnungen, in der sich auch Steve Ballmer als Microsoft-Chef findet, ebenso wie die Google-Größe Eric Schmidt oder Alibaba-Gründer Jack Ma. Zur letzten CeBIT 2018 kam die damalige IBM-Chefin Ginni Rometty.
Verhindern Krawatten Innovationen?
McNealy jedenfalls machte die Eröffnung 1999 zur Show, lehnte das Rednerpult, ein fahrbares Designobjekt, als „rollenden Pilz“ ab und erklärte mit Blick ins Publikum, warum allenfalls die Grundlagen der digitalen Revolution aus Deutschland kamen: »Ich kann mich nicht daran erinnern, in einem jungen Silicon-Valley-Unternehmen so viele Leute in Schlips und Kragen gesehen zu haben.“ Eine andere Kleiderordnung müsse her, wenn Deutschland Teil des Internet-Zeitalters sein wolle. Da war doch mancher Teilnehmer und Krawattenträger pikiert, ohne vielleicht zu bedenken, was hinter diesem Satz auch steckt: Innovation fordert Freiheit des Denkens, über Konventionen und Hierarchien hinweg. Immerhin: An der Kleiderordnung in deutschen Unternehmen hat sich inzwischen einiges getan.
Aber die CeBIT ist auch Symbol für die zerstörerische Kraft der Innnovation. Die Digitalisierung frisst ihre Kinder. Je mehr das Digitale alle Lebensbereiche durchdrang, desto mehr verschwammen auch die Grenzen zwischen CeBIT und Hannover Messe. 2018 ging die Zeit der weltgrößten Computermesse mit einem letzten Aufbäumen zu Ende. Angela Merkel, die als Bundeskanzlerin bei ihren Messeeröffnungen in Hannover die Innovationsflut gerne bodenständig bis ironisch kommentierte, war schon zwei oder drei Jahre vor dem Ende der CeBIT die Bemerkung herausgerutscht, ob man denn nicht Computer- und Industriemesse wieder zusammenführen sollte. Womit übrigens sie auf eines von zwei jährlichen Gipfeltreffen verzichtet hätte: Hannover hatte von Anfang an auch eine politische Dimension – gerne mit Visiten von Staatsoberhäuptern und Regierungschefs der jeweiligen Partnerländer. Jochen Köckler nannte die Hannover Messe gerade erst „die politischste aller Messen.“
Plattform der Industrie 4.0
Die Sinnkrise der CeBIT ging einher mit dem Aufstieg des anderen großen Innovationsthemas, das seit mehr als einem Jahrzehnt weit über Hannover und die Messe hinaus wirkt. Es war 2011: Professor Wolfgang Wahlster, Direktor des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (Interview: Seite 38), moderierte als Jury-Chef die Hermes-Award-Verleihung – und sprach erstmals von Industrie 4.0. Zusammen mit dem langjährigen SAP-Manager Henning Kagermann und dem Physik-Professor Wolf-Dieter Lukas hat er den Begriff kurz zuvor in einem Aufsatz veröffentlicht. Jetzt war er in der Welt, vielschichtig und schillernd: als Name für ein Projekt der Bundesregierung mit einer eigenen Plattform Industrie 4.0, auf der Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiteten. Als konkrete Vorstellung für den Umbau von Fabriken und Produktionsverfahren. Als historischer Rückgriff auf frühere technische Revolutionen beginnend beim Dampf, wobei sich manche daran abarbeiteten, ob von eins bis vier denn alles sauber getrennt werden könne. Und ob man sich denn nicht eher in einer evolutionären Entwicklung befinde, meinten andere, die vor dem Begriff einer Revolution zurückschreckten. Auch die Frage, was denn nun alles dazugehöre zur Industrie 4.0, stand zunächst im Raum Vernetzung, das Internet der Dinge, künstliche Intelligenz, Zusammenarbeit von Mensch und Roboter, Echtzeit-Steuerung, vorausschauende Wartung … alles fließt, was Industrie 4.0 ist, bestimmt letztlich der technische Fortschritt.
Vor allem aber wurde Industrie 4.0 zum Slogan, zum Codewort, hinter dem sich zunächst die deutsche Industrie versammelte. Um nichts anderes zu gewinnen als die Zukunft. Längst strahlt der Begriff auch international aus. Dazu trägt nicht zuletzt die Hannover Messe bei. Dort hat man von Beginn an der vierten industriellen Revolution eine Plattform geboten. Die Hannover Messe trägt seit über zehn Jahren Industrie 4.0 in die Welt. Ebenso wie sie selbst von der digitalen Transformation getragen wird.
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