Schritt für Schritt die Zukunft gewinnen: Seit etwas mehr als einem Jahr kommt der Geschäftsführer der Orpil Chemie GmbH wieder aus der Gründerfamilie. Deren Geschichte führt auch in die Zeit, als das Land Niedersachsen entstand.
„Die Aufgabe meines Lebens.“ Das im Alter von gerade einmal 34 Jahren zu sagen, ist ungewöhnlich. Claudius Baumer aber sagt das mit einer Mischung aus Ernst und Leichtigkeit. Mehr als Feststellung, aber nicht nüchtern, sondern sogar ein bisschen vergnügt. Und immerhin hat er mit seiner Entscheidung, in Hannover Geschäftsführer der Orpil-Firmengruppe zu werden, eine Zukunft in Kanada aufgegeben. Dort war er IT-Projektmanager, stand vor der Selbstständigkeit.
Der Weg zurück nach Hannover wurde frei, als die Orpil Chemie GmbH wieder mehrheitlich in Familienhand zurückkehrte. Baumers Urgroßvater Franz Henkel hatte das Unternehmen am Vorabend des ersten Weltkriegs gegründet: Er kam 1912 auf die Idee, Seifen und Reinigungsmittel herzustellen. Ein Jahr darauf wurde Henkel & Co. eingetragen. Dass das aber irgendwann der großen Henkel & Cie. in Düsseldorf auffallen würde, war wohl nur eine Frage der Zeit. Und die Rheinländer wollten, dass der Name Henkel aus der hannoverschen Firma verschwindet. Im Mai 1930 verglich man sich, in aller Vollständigkeit wurde aus der Henkel & Co. Dampf-Seifen- und Soda-Fabrik die Orpil-Seifenwerk Dr. Wirth & Co. Die Düsseldorfer ließen sich das immerhin 100000 Reichsmark kosten.
Orpil war damals die zentrale Marke des Unternehmens. Für Waschmittel zum Beispiel: „Wirklich selbsttätig“, heißt es in der Werbung um 1930. Was man auch als Spitze gegen den anderen, den Düsseldorfer Henkel verstehen kann. Nimmt doch dessen Persil bereits Jahre zuvor für sich in Anspruch, das erste selbsttätige Waschmittel zu sein – also schmutzlösend und bleichend, was die harte Arbeit am Waschbrett überflüssig machte. Seifenspäne kamen aus dem hannoverschen Werk ebenso wie Teerseife der Marke Hacovon. Henkel übernahm auch die hannoversche SchmitzJérôme & Co., Ende der 20er Jahre nach eigenem Bekunden größte Spezialfabrik für Seifenspender. Denn unter der Marke Orpil wurden auch Flüssigseifen verkauft. Die stehen auch heute noch in der Lagerhalle. Doch die halbtransparenten Kanister mit ihrem strahlend-rosa Inhalt täuschen eine Gradlinigkeit vor, die es so tatsächlich nicht gab. Seifen und Waschmittel, die ursprünglichen Produkte von Orpil, waren zeitweise fast völlig aus dem Unternehmen verschwunden.
Heute gibt es wieder verschiedene Zweige: Orpil Chemie steht dabei für die Herstellung von Produkten zur Veredlung von Textilien oder Papier: Mittel, um Stoffe schwer entflammbar oder wasserabweisend zu machen. Appreturen für Glätte, Glanz, Geschmeidigkeit und höhere Stabilität. Hauptsächlich werden technische Textilien, beispielsweise Sitzbezüge und Sicherheitsgurte, sowie Spezialpapiere mit Dispersionen aus Hannover ausgerüstet. Die Kunden kommen aus der Industrie und sind allesamt größer als das hannoversche Unternehmen mit seinen 22 Beschäftigten, Claudius Baumer eingeschlossen.
Die Fülle der oft kundenspezifischen Lösungen scheint unübersehbar. „Das Geschäft ist beratungsintensiv“, sagt Claudius Baumer. Er will das Orpil-Geschäft weiter ausbauen: Produkte zur Vorbehandlung von Textilien, zur Behandlung der Fasern und Garne, sowie Produkte für die Färberei kommen hinzu. Daran arbeiten die Chemiefachleute in der der Produktentwicklung und Anwendungstechnik. Flüssige Reinigungsmittel und Spezialreinigungsprodukte für die Industrie kamen dann verstärkt 2001 durch die Übernahme der Deutschen Hahnerol GmbH aus Sarstedt wieder ins Unternehmen. Verkauft wird überwiegend an Großhändler, die bedienen dann zum Beispiel Gebäudereinigungsfirmen oder Großküchen. Die Kundenzahl liegt im dreistelligen Bereich: Hier braucht es weniger Beratung, dafür Vertriebsstärke: Die will der Orpil-Chef weiter ausbauen. Über die ebenfalls 2001 übernommene Parchmann + Lutze GmbH werden – noch – die Produkte der amerikanischen Celanese Corporation vertrieben. Die Palusa genannte GmbH wird als bislang eigenständige Firma auf die Orpil Chemie GmbH verschmolzen: Eine verschlankte Firmenstruktur mit der Handschrift Baumers.
Und dann sind da noch manche Produkte, die Vergangenheit erstehen lassen. Grüne Kehrspäne zum Beispiel, aus Fichtenholz, Quarzsand und Spezialtensiden. Roch nicht auch das Treppenhaus von Hermann Hesses Steppenwolf stets nach Bohnerwachs? Heute wird dieses in einer Nische noch hergestellt, aber „früher ging das hier in Eisenbahnwaggons raus.“
Der Steppenwolf weist in die 20er Jahre – Zeit des Aufbaus für Franz Henkel und Orpil, aber schon mit dem Schatten des Kommenden. Der Unternehmer dachte freiheitlich – während des nationalsozialistischen Regimes wurde er angefeindet, verhaftet und wohl auch misshandelt. Trotzdem habe er NS-Gegner im Unternehmen beschäftigt, heißt es. Henkel war dann dabei, als sich im April 1945 in Hannover gut ein Dutzend Unternehmer zusammenfanden, um die wirtschaftliche Zukunft zu planen, unter weitgehend unklaren Bedingungen: Der Krieg war ja noch nicht einmal zu Ende. Als im November 1946 das Land Niedersachsen gegründet wurde, war Franz Henkel bereits seit über einem Jahr erster Nachkriegspräsident der IHK Hannover: In der ersten freien Wahl seit 1932 setzte er sich durch. Er war Mitglied des ersten Landtags, wurde von der britischen Besatzungsmacht als erster Oberbürgermeister Hannovers nach dem Krieg eingesetzt und gehörte zur ersten Bundesversammlung, die Theodor Heuß zum Bundespräsidenten wählte. 1959 starb Franz Henkel. Sein Sohn, der Diplomchemiker Willfried Henkel, übernahm das Unternehmen. Bereits seit 1950 leitete er das Geschäft, zunächst gemeinsam mit seinem Vater. Nach dem Tod Willfried Henkels im Jahr 1985 veräußerte die Familie Anteile am Unternehmen. Aus der Orpil Seifenwerk Dr. Wirth und Co. wurde die Orpil Chemie GmbH und drei angestellte Geschäftsführer übernahmen die Leitung 1987. Der letzte der drei schied erst letztes Jahr nach dem Einstieg Baumers aus dem Unternehmen aus. Claudius Baumer fasst das Wirken seines Urgroßvaters unter einen Begriff, an den man zunächst vielleicht nicht denkt: Nachhaltigkeit. Denn dazu zählen für ihn nicht nur ökologische, ökonomische und soziale Aspekte, sondern auch kulturelle. Der heutige Orpil-Chef hat seine Masterarbeit in Ägypten geschrieben, im Sekem-Projekt des Unternehmers Dr. Ibrahim Abouleish, der für dieses Sozialunternehmen 2003 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. In diesem Umfeld befasste sich Baumer mit der Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen.
Jetzt, in Hannover, gehört für ihn zur kulturellen Nachhaltigkeit auch, die historischen Orpil-Gebäude in ihrem Charakter zu erhalten – selbst wenn vor einigen Jahren einer der beiden prägenden Fabrikschornsteine abgerissen werden musste; er war baufällig. Für das Dach plant Baumer eine Photovoltaik-Anlage: Ein Schritt, um noch vor 2030 klimaneutral zu produzieren. Es wird nicht die einzige Investition bleiben in Gebäuden, denen man die Tradition mehr ansieht als die Zukunft. Genug für eine lebenslange Aufgabe? Wer weiß. Das Familienunternehmen – beteiligt sind neben Baumers Mutter und Großmutter, der Witwe Willfried Henkels, inzwischen auch seine drei Brüder – ist profitabel und zu 100 Prozent eigenkapitalfinanziert, so der Geschäftsführer: Das ist eine Grundlage ökonomischer Nachhaltigkeit – und sorgt für einen langen Atem.