Gut sechs Wochen war eine Ausstellung zu den Anfängen der Sozialen Sozialen Marktwirtschaft in der IHK Hannover zu sehen. Zum Abschluss kamen der Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Nils Goldschmidt und Hannovers Regionalbischöfin Dr. Petra Bahr in die IHK.

Der Geist, der „Spirit“ der Sozialen Marktwirtschaft: Mit Dr. Petra Bahr war es eine Theologin, die in der IHK Hannover genau daran erinnerte. Ausgerechnet – oder ungewöhnlicherweise – eine Theologin? Kein, keineswegs. Denn schließlich hat die Soziale Marktwirtschaft eine „Tiefengrammatik“, sagte Bahr, die von Ideen aus beiden großen Kirchen gespeist ist. Auch wenn sich manche heute fragten, wo diese Tiefengrammatik denn noch zu erkennen sei.

Bahr, Regionalbischöfin in Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrates, sprach anlässlich einer Ausstellung zur Sozialen Marktwirtschaft, die über mehrere Woche in der IHK Hannover zu sehen war und jetzt zu Ende ging. Die Theologin setzte dabei noch vor dem Urknall der Sozialen Marktwirtschaft an: Der war zu hören, als Alfred Müller-Armack irgendwann 1946 auf der Treppe eines westfälischen Klosters ausrief, wie es heißen muss: „Soziale Marktwirtschaft, Sozial mit großem S“.

Suche nach einem Neubeginn

Doch schon in den Jahren davor, noch während des Krieges, trafen sich Kreisau, in Freiburg Menschen, die über eine Zukunft Deutschlands nach der nationalsozialistischen Diktatur nachdachten.  Dabei ging es Bahr, wenig überraschend, nicht um die ordnungspolitischen Grundsätze, wie sie vor allem im Freiburger Kreis entwickelt wurden, und ihre Bedeutung in der Sozialen Marktwirtschaft. Sondern um das, was die Männer und Frauen damals antrieb: Auf den Trümmern eines auch moralisch völligen Zusammenbruchs nach Ideen für einen Neuanfang zu suchen, und das nicht nur mit Kraft und Fantasie, sondern auch mit einem Höchstmaß an persönlicher Risikobereitschaft.

Dieser Gedanke vom „Spirit“ der Sozialen Marktwirtschaft kam an im IHK-Plenarsaal. Bei allem Unbehagen für eine unzureichende ökonomische Bildung, über die Darstellung von Wirtschaft in der Öffentlichkeit als „Täter“, von Unternehmerinnen und Unternehmern, die – so Petra Bahr – in Medien grundsätzlich „diskreditierungsfähig“ seien: IHK-Präsident Gerhard Oppermann machte deutlich, gerichtet (nicht nur) an die Teilnehmenden im IHK-Plenarsaal, dass sie alle in der Pflicht stünden, um dieses Bild geradezurücken.

Der Impuls von Petra Bahr machte aber noch ein weiteres deutlich: Wie sinnvoll ein Dialog zwischen unterschiedlichen Bereichen auch heute sein kann. Am Beginn der Sozialen Marktwirtschaft war die Verbindung zwischen kirchlich-werteorientiertem und ökonomischen Vorstellungen allein durch die handelnden Personen untrennbar – Müller-Armack zum Beispiel war (auch) Religionssoziologe, der Freiburger Kreis mit der Bekennenden Kirche verbunden.

Subsidiarität: Auf der richtigen Ebene bleiben

Stark geprägt von der katholischen Soziallehre ist ein Begriff, den Petra Bahr in ihrem Vortrag besonders hervorhob: Subsidiarität. Verbunden ist dieser Begriff besonders mit Oswald von Nell-Breuning. Der Jesuit, in aller Regel als Nestor der katholischen Soziallehre bezeichnet, schrieb ihn 1931 seinem Papst Pius XI. in dessen Enzyklika zu Wirtschaft und Gesellschaft.

Heute ist Subsidiarität nicht nur in den Soziallehren beider christlicher Kirchen verankert, sondern auch in den Grundsätzen der Europäischen Union. Ganz leicht zu erklären ist Subsidiarität nicht – hier nur so viel: Entscheidungen sollen auf der Ebene der jeweils Betroffenen fallen; der Staat ist nur für solche Aufgaben zuständig, die nicht von kleineren Einheiten bewältigt werden können, bis hinunter zur Familie.

Nur: Wird Subsidiarität auch gelebt? Petra Bahr beschrieb einen „heimlichen Trend zur Verstaatlichung ehemals subsidiär geplanter Bereiche.“ Was sie meint, lässt sich, das Subsidiaritätsprinzip vor Augen, wohl so beschreiben: Entscheidungen und Vorgaben werden im wahrsten Sinnen von oben herab getroffen, über die Köpfe de jeweils Betroffenen hinweg. Was zwar zu komplizierten Regeln, aber jedenfalls nicht zu deren Akzeptanz führen mag.

Dieser Trend, die Verlagerung von Verantwortung auf leisen Sohlen auf die nächsthöheren Ebene, werde zu wenig thematisiert,  sagt Bahr, führe aber zu hausgemachten Problemen: „Dazu braucht man keine Krisen.“ Und man denkt unwillkürlich an Regelungswut und überbordende Bürokratie.

Argumente von anderer Seite

Unter kaum etwas leiden Unternehmen in Deutschland gerade mehr als unter einem Übermaß an Regulierung. Subsidiarität ist eine Leitlinie, um das Vordringen des Staates in alle möglichen Lebensbereiche zu verhindern. Zum Argument, dass ein Abbau von Bürokratie allein deshalb nötig ist, weil sie in Unternehmen eine Wachstumsbremse ist, kommt damit ein weiteres hinzu: Wenn man Subsidiarität als Baurichtlinie einer dem Menschen dienenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nimmt, führt das zu weniger Komplexität und damit zu mehr Freiheit führt.

Und Freiheit ist schließlich einer der beiden Pole, zwischen denen die Soziale Marktwirtschaft balanciert. „Sinn der Sozialen Marktwirtschaft ist es , das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“, formulierte schon Alfred Müller-Armack. Und bereits Anfang 1947 hieß es im Geschäftsbericht der IHK Hannover unter dem Stichwort „beste Wirtschaftsform“, das sei eine „Synthese zwischen freier Initiative und sozialem Willen.“

Neue Herausforderungen

So die Anfänge. Heute jedoch stellen sich andere Aufgaben als in den frühen Jahren der Sozialen Marktwirtschaft. Klimawandel, Digitalisierung, Zukunft der Arbeit. Was alles andere bedeutet, als dass man unvermeidlich Menschen einschränken muss. Vielmehr geht es darum: „Spielregeln verändern, ohne dass wir den Menschen die Freiheit nehmen“, erklärte in Hannover der Ökonom Professor Dr. Nils Goldschmidt, unter anderem Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Verbieten und ersetzen, selbst predigen – das habe alles seine Berechtigung, wenn man gesellschaftliche Ziele erreichen wolle, so Goldschmidt, der auch Theologe ist und außerdem einer von Petra Bahrs Kollegen im Deutschen Ethikrat. Aber zu einer freiheitlichen (Markt-)Ordnung passt eben eine CO2-Bepreisung und nicht ein Verbot.

Plädoyer gegen Radikalität

Goldschmidt hielt in Hannover ein Plädoyer gegen Radikalität. Das ist umso aktueller, als gerade jetzt radikale Ansätze wieder Konjunktur haben, für die Wirtschaft insgesamt oder auch zum Abbau der Bürokratie. Angesichts solcher Vorbilder ist an verschiedenen Stellen die Diskussion aufgebrochen, wie solche freien Radikale zur Sozialen Marktwirtschaft passen. Der Wirtschaftsethiker empfiehlt Augenmaß statt Radikalität, „der Mittelweg ist eben nicht der Tod.“ Radikale Probleme erforderten eben nicht unbedingt radikale Lösungen. Aber eben die richtigen Spielregeln, „nämlich solche, die dem Menschen dienlich sind.“

Denn der Mensch steht im Mittelpunkt der Sozialen Marktwirtschaft. Jeden und jede zu befähigen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden: Das sei das Ziel, so Nils Goldschmidt, der den berühmten Titel eines Buches von Ludwig Erhard in einer klaren Betonung verstanden wissen will: Nicht „Wohlstand für alle“, sondern „Wohlstand für alle“.

Und bei der Befähigung von Menschen, das durfte zum Abschluss der Ausstellung nicht unerwähnt bleiben, hat die IHK ihre besondere Rolle. Darauf wies Maike Bielfeldt hin, Hauptgeschäftsführerin der IHK Hannover. Berufliche Bildung, und zwar passend zu den aktuellen Anforderungen: Das ist eine Kernkompetenz der IHK: von der Lehre über die Fort- und Weiterbildung bis zur Anpassung und Ergänzung von Qualifikationen – und damit Menschen ermöglichen, auch heute ihren Platz in der Sozialen Marktwirtschaft zu finden.

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