Ein Zukunftskonzept, dass aber immer neu justiert werden muss: Soziale Marktwirtschaft: Das Engagement braucht, und in das man investieren muss. Sagt Professor Nils Goldschmidt, unter anderem Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft im NW-Interview.
Herr Professor Goldschmidt, haben wir uns eigentlich in Deutschland so sehr an die Soziale Marktwirtschaft gewöhnt, dass man daran erinnern muss, was wir an ihr haben? Und ist das der Grund, weshalb Sie mit der Ausstellung zur Sozialen Marktwirtschaft, die aktuell in der IHK Hannover zu sehen ist, in Deutschland unterwegs sind?
Goldschmidt: Das ist sicherlich einer der der wesentlichen Gründe. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir nicht nur rückblickend an die Soziale Marktwirtschaft erinnern, sozusagen aus Respekt vor ihr. Sondern wir müssen uns wieder mehr und mehr klar machen, dass die Soziale Marktwirtschaft eine Ressource ist. Eine Ressource, die wir für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für den sozialen Zusammenhalt brauchen.
Soziale Marktwirtschaft als Ressource zu verstehen, bedeutet auch, dass wir in sie investieren müssen. Wir brauchen wieder mehr ein Gespür dafür, dass Soziale Marktwirtschaft etwas ist, was uns allen gut tut und uns ermöglicht, in einer freien und in einer sozial ausgewogenen Gesellschaft zu leben.
Die Ausstellung, mit der wir in Deutschland unterwegs sind, soll helfen, dies deutlich zu machen. Aber eben nicht nur, um die Soziale Marktwirtschaft zu polieren und zu zeigen, wie schön sie doch ist. Sondern um zu verstehen, dass sie etwas ist, das gerade junge Menschen immer wieder neu erlernen müssen. Soziale Marktwirtschaft fällt nicht vom Himmel, sondern ist etwas, in das wir immer neu investieren müssen.
Aber zunächst mal schlicht und ergreifend die Frage: Wer sollte die Ausstellung in der IHK besuchen?
Goldschmidt: Wie ich gerade schon angedeutet habe: Es geht uns darum, insbesondere junge Menschen für die Soziale Marktwirtschaft zu begeistern, ihnen ein Gespür für dieses Konzept zu geben. Wir haben die Ausstellung so konzipiert, dass man sie als Schulklasse besuchen kann. Wir haben Lehr- und Lernmaterialien entwickelt, so dass ein Lehrer, eine Lehrerin im Vorfeld den Besuch vorbereiten kann. Aber natürlich: Die Ausstellung ist offen für jeden und für jede – bis hin zu allen, die vielleicht sogar die Anfangszeiten der Sozialen Marktwirtschaft noch miterlebt haben. Oder die in den 60er, 70er und 80er Jahren in ihr groß geworden sind.
Wir wollen verständlich machen, dass die Soziale Marktwirtschaft ein großartiges Konzept ist. Und eines, das auch sehr erfolgreich war und ist.
Denn es gibt gar nicht so viele ökonomische Systeme, die sich derart erfolgreich durchgesetzt und etabliert haben wie die Soziale Marktwirtschaft. Das zu erleben und zu verstehen, ist wichtig für alle. Aber natürlich insbesondere für diejenigen, die jetzt in diese Soziale Marktwirtschaft, die in unsere Gesellschaft und Wirtschaftsordnung hineinwachsen.
Ich bin mit dem Begriff Soziale Marktwirtschaft aufgewachsen und habe ihn sozusagen verinnerlicht. Aber erst jetzt, im Zusammenhang mit der Ausstellung, habe ich gemerkt, wie wenig konkret ich mich damit beschäftigt habe. Also mit der Frage: Was macht denn die Soziale Marktwirtschaft eigentlich aus? Man findet natürlich Antworten: Zunächst, also in den 50er und 60er Jahren, waren es die Themen Bildung, Vermögensaufbau, Wohneigentum. Dann später das Stabilitätsgesetz mit der Festschreibung des magischen Vierecks – Wachstum, Arbeitslosigkeit, Inflation und Außenhandelsbilanz. Aber was gehört aus heutiger Sicht dazu?
Goldschmidt: Trotz aller unterschiedlichen Herausforderungen, die jede Zeit mit sich bringt, hat die Soziale Marktwirtschaft einen stabilen Kern: Es geht um die Freiheit der Menschen. Es geht um die Möglichkeiten der Menschen. Und es geht um die Befähigung von Menschen.
Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass wir Rahmenbedingungen beziehungsweise Spielregeln gestalten, innerhalb derer sich der Mensch frei entfalten kann.
Natürlich: Die Probleme der 50er, der 60er und 70er Jahre sind andere, als wir sie heute haben. Nach dem Krieg war es zunächst wesentlich, den Wiederaufbau zu regeln und die Kriegsfolgen zu stemmen. Hierfür war ein gewisses Maß an Umverteilung und der Ausbau sozialer Sicherheit notwendig. Heute sind es andere Fragen nach dem Klimawandel, der Digitalisierung und dem demografischen Wandel. Aber ich glaube, dass die Soziale Marktwirtschaft auch Antworten auf diese neuen Fragen hat.
Die sind aber nicht vorgefertigt. Die Soziale Marktwirtschaft ist eine Versuchsvorschrift, die sagt, wie man vorgehen sollte, um Antworten auf neue Herausforderungen zu finden. Die Grundidee ist dabei: Wir greifen nicht in die Märkte ein, aber wir bauen Leitplanken für den Markt, für die Wirtschaft, so dass die Ziele erreicht werden, die wir erreichen wollen. Wenn wir das Ziel haben, den Klimawandel zu begrenzen und die ökologische Krise abzuwenden oder einzudämmen, soweit es überhaupt noch möglich ist, dann müssen wir uns überlegen:
Was sind gute Regeln? Zum Beispiel die Einführung einer funktionierenden CO2-Steuer oder Emission von CO2-Zertifikaten, wie wir sie ja zum Teil auf europäischer Ebene schon haben. In gleicher Weise müssen wir uns überlegen, wie wir mit den planetaren Grenzen umgehen, also beispielsweise mit exzessivem Landverbrauch. Immer geht es darum, über Spielregeln nachzudenken.
Was aber der konkrete Inhalt dieser Spielregeln ist, das hängt von den konkreten Bedingungen ab und von den Herausforderungen der jeweiligen Zeit. Und die wandeln sich. Aber der Gedanke: Wir gestalten Spielregeln und greifen nicht in den Markt ein, das ist der bleibende, überzeitliche Kern der Sozialen Marktwirtschaft.
Es gibt in Hannover ein Projekt, an dem die Continental AG als Technologiekonzern beteiligt ist, aber auch die IHK. Dabei geht es darum, Menschen zu qualifizieren, insbesondere auch angesichts des digitalen Wandels, angesichts einer umfassenden Transformation. Und zu sagen, welche Qualifikationen werden künftig benötigt und wie kriegt man es hin? Und man lässt die Menschen nicht alleine, sondern schafft Einrichtungen, in denen diese Bildungsqualifikationen erlernt werden können. Ist das zum Beispiel auch so ein Ausfluss dieses Gedankens der Sozialen Marktwirtschaft, der so ein bisschen verinnerlicht ist, der aber tatsächlich dazugehört?
Goldschnmidt: Definitiv. Bildung ist ein zentrales Element in der sozialen Marktwirtschaft. Deren Vordenker haben immer betont, dass es darum geht, Menschen zu bilden. Oder wie man heute sagen würde, im Anschluss an Amartya Sen und Martha Nussbaum (der eine Ökonomie-Nobelpreisträger, die andere ebenfalls vielfach ausgezeichnete Ethikerin, Anm. d. Red), es geht um Befähigung. Es geht darum, Menschen die Möglichkeit zu geben, ein gutes Leben mit guten Gründen zu führen. Also nicht nur darum, dass wir formal alle gleich sind und gleiche Freiheiten haben. Sondern darum, dass der Mensch auch die Möglichkeit hat, diese Freiheit zu nutzen. Und dafür brauchen wir Bildung.
Das Konzept der Dualen Berufsausbildung, wie wir es in Deutschland etabliert haben, ist ganz eng verknüpft mit der Sozialen Marktwirtschaft. Es geht eben nicht darum, Menschen nur im Sinne eines mechanischen Aktors zu qualifizieren, damit er dann gut eingesetzt werden kann. Sondern es geht darum, Menschen so umfassend zu qualifizieren, dass sie selbst den Eindruck haben, ein gutes, ein gewinnbringendes, ein erfüllendes Leben führen zu können.
Zugleich ist es auch ist es für die wirtschaftliche Seite der Sozialen Marktwirtschaft wesentlich, dass wir gut ausgebildete Menschen haben. Gut ausgebildete Menschen sind im Zweifel kreativer, haben Ideen, können neue Dinge einbringen. Und das ist natürlich einer der Motoren unserer Wirtschaft: Markt und Wettbewerb führen dazu, dass Innovationen entstehen. Aber dafür brauchen wir auch qualifizierte Menschen, die dahinter stehen. Deswegen ist auch ökonomisch Bildung ganz zentral. Und wenn wir sehen – und das ist sicherlich eine der großen Leerstellen unserer Sozialen Marktwirtschaft – wie groß die Bildungskluft ist zwischen jungen Menschen, die aus sozioökonomisch guten und sozioökonomisch eher schlechter gestellten Haushalten kommen, immer noch ist, dann haben wir da eine ganz große Aufgaben: Neu über Bildung nachdenken und Chancen ermöglichen gerade auch für diejenigen, die schwierige Startbedingungen haben.
Wenn man sieht, dass von Kindern, die aus schwierigeren sozioökonomischen Verhältnissen kommen, um die 20 Prozent Abitur machen und das die Quote bei denjenigen, die aus guten sozioökonomischen Haushalten kommen, bei 80 Prozent liegt, dann haben wir eine massive Schieflage. Hier zu investieren, Chancengerechtigkeit herzustellen: Ich glaube, das ist eine ganz entscheidende Stellgröße der Sozialen Marktwirtschaft.
Und wenn ich einen Satz noch anfügen darf: Das bekannte Buch von Ludwig Erhard, 1957 erschienen, trägt den Titel „Wohlstand für alle“. Aus meiner Sicht eine Frage der Betonung: Eben nicht primär Wohlstand für alle, sondern Wohlstand für alle. Davon spricht Ludwig Erhard auch zu Beginn: Es geht um die Sozialisierung von Fortschritt und Gewinn. Sozialisierung in dem Sinne, das jeder Mensch seinen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg haben soll. Das ist das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Es geht um jeden einzelnen und jede einzelne: Alle sind wichtig. Und deswegen müssen wir uns auch dafür einsetzen, dass jeder die Möglichkeit bekommt, tatsächlich ein gutes Leben führen zu können.
Wettbewerbsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft, ethische Grundlage und eine frühe Rolle der IHK Hannover: Hier der zweite Teil des Interviews mit Nils Goldschmidt.
Dr. Nils Goldschmidt (54) ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Siegen und beschäftigt sich dort unter anderem mit ökonomischer Bildung. Studiert hat er in Freiburg neben VWL auch Theologie. Seit rund zehn Jahren ist er Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft in Tübingen. Er wurde in diesem Jahr in den Deutschen Ethikrat berufen und ist einer der beiden ersten Wirtschaftswissenschaftler in diesem Gremium.
Am 2. Dezember ist Nils Goldschmidt zu Gast in der IHK Hannover, gemeinsam mit Regionalbischöfin Dr. Petra Bahr. Beide sind Mitglieder des Deutschen Ethikrates. Mehr zu dieser Veranstaltung finden Sie hier.