Von Georg Thomas

Nettlingen und Barver – diese zwei Dörfer aus Niedersachsen haben bereits etwas, was sich viele kleine Orte sehnlichst wünschen: einen Supermarkt. Auf wenig Fläche, rund um die Uhr geöffnet,
ein Stück
Genossenschaft – mit diesem Konzept eröffnen in immer mehr Dörfern in der Region Tante Enso-Märkte.

Der nächste Supermarkt ist von Nettlingen zehn Minuten mit dem Auto entfernt. In der näheren Umgebung sieht man höchstens mal einen Verkaufsautomaten für Eier und andere regionale Erzeugnisse. Vor drei Jahren schloss mit der Schlachterei Hagemann das letzte Geschäft in dem kleinen Ort im Nordosten des Landkreises Hildesheim. Dass sich daran nochmal etwas ändert, hatte eigentlich keiner gedacht.

Ortsbürgermeister Thomas Hein erfuhr 2022 durch einen Zeitungsartikel das erste Mal von Tante Enso. „Das war genau das, was uns fehlte, dachte ich. Und Nettlingen erfüllte alle gestellten Anforderungen und so habe ich mich noch am gleichen Abend beworben“, so der 58-Jährige. Was alles in den kommenden Monaten ihm und den 1350 Menschen im Ort abverlangt werden würde, wusste er damals noch nicht. Denn zum Konzept der kleinen Supermärkte gehört es, sich nur dort anzusiedeln, wo auch deutlich wird, dass das ganze Dorf in Zukunft wieder vor Ort einkaufen möchte. So braucht es nicht nur ein kreatives Bewerbungsvideo, sondern auch 300 Menschen, die einen Anteil im Wert von 100 Euro erwerben, wie bei einer Genossenschaft.

Nach einem Informationsaustausch mit Enso-Geschäftsführer Thomas Bausch war sich die Politik schnell einig – der Ortsrat beschloss einstimmig, sich um die Supermarkt-Ansiedlung zu bemühen. Das Unternehmen aus Bremen hatte bereits seine Bereitschaft signalisiert und auch ein möglicher Standort war mit dem früheren Elektrofachgeschäft von Friedrich Haußmann schon in der engeren Auswahl. „Für die Informationsveranstaltung im April 2023 musste Tante Enso in die Kirche ausweichen“, erinnert sich Hein. So voll wie damals sei die Kirche selbst an Weihnachten nicht, meint der Ortsbürgermeister.

Inzwischen dürfte sich Tante Enso in dem Dorf zwischen Braunschweig und Hildesheim eingelebt haben: Am 18. Januar gibt es das Geschäft seit genau einem Jahr. Und von der ersten Minute an ist Anja Vogt mit dabei. Die 37-Jährige gelernte Einzelhandelskauffrau leitet die Filiale in Nettlingen, in der neben ihr noch vier weitere Beschäftigte arbeiten. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal allein einen solchen Markt führe“, sagt die junge Frau, die mit ihrem Mann und ihrer dreieinhalb Jahre alten Tochter seit einigen Jahren in dem kleinen Dorf lebt. Früher musste sie täglich eine Stunde zur Arbeit in Braunschweig pendeln.

Mit großer Sorgfalt und dennoch zügig kontrolliert sie morgens mit einem Klemmbrett in der Hand die Haltbarkeit der Lebensmittel und füllt die Lücken in den Regalen. Sie grüßt einen älteren Herrn, der gerade seine Brötchen, eine Zeitung und eine Tüte Milch auf den Kassentresen legt. Josef Gerlach kommt regelmäßig aus dem Nachbarort zum Einkaufen. Er sei froh, dass er mit dem Auto nicht mehr so weit fahren müsse, sagt der 81-Jährige. Von Nettlingen sind es mehr als sechs Kilometer bis zu einem kleinen Supermarkt, zum größeren Geschäft sogar acht.

Auf etwas mehr als 200 Quadratmetern bietet Tante Enso in Nettlingen ein Sortiment mit mehr als 3000 Artikeln, was einer Vollversorgung entspricht. Die Preise sind auf normalem Supermarktniveau – Angebote fehlen aber. Dafür gibt es bei Enso die Waren regionaler Anbieter: Eier und Kartoffeln vom Biobauern, Würstchen vom Landschlachter und auch Nudeln von einem Hersteller aus der Region. Wer sich einmalig bei Tante Enso registriert, erhält eine Karte, mit der in den Märkten rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche eingekauft werden kann. Dazu gibt es eine Kasse, bei der man die Waren selbst scannt, zudem ist der Markt videoüberwacht. Wer lieber bar oder persönlich bezahlt, kann das in Nettlingen an vier Vormittagen pro Woche, montags und freitags ist nachmittags Personal da.

Deutschlandweit gibt es inzwischen mehr als 50 Tante Enso-Läden und viele ähnliche Supermarkt-Konzepte wie etwa die TEO-Läden der Tegut-Supermärkte. Und auch die großen Ketten experimentieren mit Smart-Stores, die digital Einkäufe rund um die Uhr ermöglichen. Die Enso-Märkte setzen nicht allein auf die digitalen Möglichkeiten, sondern bieten auch bewusst den menschlichen Kontakt. „Die Menschen bleiben vor der Kasse oft länger stehen, um sich zu unterhalten. Unser Enso ist zu einem richtigen Treffpunkt bei uns geworden“, sagt Ortsbürgermeister Thomas Hein, der selbst nun wieder zu Fuß zum Einkaufen geht.

In vielen Orten findet man Tante Enso in ehemaligen Geschäftsräumen, die meist schon längere Zeit leer standen. Dass es auch anders geht, zeigt Barver im Landkreis Diepholz, wo ein Unternehmer ein neues Gebäude baute und an Tante Enso für die nächsten zehn Jahre vermietet. Der Supermarkt, der diesen Sommer eröffnete, liegt zentral mitten in dem Ort mit knapp 1000 Einwohnern zwischen Kirche, Kita und Feuerwehr. „Es war auch der Standort, den wir und die Menschen im Dorf wollten“, sagt Bürgermeister Hans-Hermann Borggrefe. Der Investor sei damals auf die Gemeinde zugekommen und hatte angeboten, das Grundstück von der Stadt zu kaufen und das dort stehende Gebäude abzureißen.

Fragt man die Ortsbürgermeister aus Nettlingen oder Barver, hört man aus der Bevölkerung nur positive Rückmeldungen zu Tante Enso. Aber es gibt auch andere Stimmen. So hatte sich in Barver der Betreiber der örtlichen Tankstelle kritisch geäußert, da er um die Umsätze aus dem Verkauf von Waren in seinem Tankstellenshop fürchtete. „Mein Umsatz ist noch einmal deutlich gesunken, aber ob es an Tante Enso liegt, weiß ich natürlich nicht“, sagt Stefan Hildebrand, der die Tankstelle an der B214 seit fast 20 Jahren führt. „Erst Corona und Energiekrise und jetzt E-Autos und Sprit sparen – das Geschäft ist gerade noch so rentabel.“

Wird das Konzept von Tante Enso in den Orten, um die größere Ketten seit Jahren einen Bogen machen, auch wirtschaftlich aufgehen? „Wenn täglich etwa hundert Menschen ihren Einkauf bei uns erledigen, dann trägt sich der Markt im Ort“, sagt Tante Enso-Pressesprecherin Jessica Renziehausen. Die Märkte vor Ort mögen ungern konkrete Zahlen nennen. Aber das Konzept scheint aufzugehen. „Bislang mussten wir noch keinen Tante Enso schließen“, sagt Renziehausen. Im Gegenteil: in 50 weiteren Dörfern sollen bald Märkte öffnen. Es könnte was werden mit Tante Enso und dem Dorf.

Enso wurde 2016 in Bremen gegründet und hat heute rund 300 Beschäftigte. Den ersten Tante Enso-Markt eröffnete das Unternehmen 2019, heute sind es bereits mehr als 50 in Deutschland, allein acht in der IHK-Region (Schwiegershausen, Bilshausen, Aschen, Barver, Nettlingen, Neuenkirchen, Barenburg, Siedenburg).

Jetzt Artikel teilen!