Die Stadtwerke Neustadt setzen auf Ideen. Und haben unter dem Leitmotiv Ideenstadtwerke ein Portfolio an Dienstleistungen und Angeboten aufgebau. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Glasfasernetz für Neustadt.
Was sich in den vergangenen fünf Jahren bei den Stadtwerken Neustadt getan hat, lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Aus dem Kern der Wärmeversorgung für ein Neubaugebiet entstand in Schritten eine Strategie, die über eine Verbindung von Digitalisierung und Energie nicht nur erstaunlich gut zur Grundidee eines kommunalen Versorgungsunternehmens passt, sondern sie auch in die Zukunft fortschreibt. Doch dieser eine Satz würde der Entwicklung nicht gerecht.
Aber wo beginnen? Diesmal jedenfalls nicht 1908, dem Gründungsjahr der Stadtwerke. Ein paar Monate zuvor war gerade erst das städtische Gaswerk gebaut worden, wie so oft auch in Neustadt Ursprung von Stadtwerken. Vielleicht hatte man ja nach Hannover – genauer: nach Linden – geschielt, wo 1825 in der Glocksee die erste Gasanstalt Deutschlands entstand.
So oder so: Die neue Gasanstalt am Rübenberge habe die Nachbarstädte aufhorchen lassen, sollte ein Stadtchronist später schreiben. Doch bei allem Neustädter Fortschrittsstolz, so berechtigt er gewesen sein mag: Jetzt kommt ein Zeitsprung.
Hätte er eine Zeitmaschine erfunden …
Hätte der Neustädter Senator und Apotheker Adolf Redeker, der seinerzeit die Gasanstalt anschob, nebenbei auch eine Zeitmaschine erfunden, so könnte er heute, mehr als 100 Jahre später, feststellen, dass Gas – und daneben Strom und Wasser natürlich – noch immer eine Säule des Stadtwerke-Geschäfts ist. Die wesentlich zu den rund 76,2 Mio. Euro Umsatz beiträgt, die in Neustadt von rund 300 Mitarbeitenden erwirtschaftet wird. Über die Grundversorgung hinaus bieten die Stadtwerke Wallboxen für Elektroautos und Solarmodule für Balkons. Sind mit E-Carsharing unterwegs. Haben sich über an einem Elektro-Installationsgeschäft beteiligt, das eine Nachfolgelösung suchte. Und das jetzt unter dem Namen Voltik gut in die seit 2020 von Pastelltönen geprägte neue Markenlandschaft der Stadtwerke passt. Was vielleicht sogar noch mehr fürs Balneon gilt: So heißt das 2018 gebaute Schwimmbad inklusive Sauna und Naturbadesee. Betrieben ebenfalls von den Stadtwerken.
Klingt eigentlich paradox: Kalte Nahwärme
Doch das alles trifft noch nicht den Kern der Veränderungen. Der hat seinen Ursprung in einem Neubaugebiet, dem ehemaligen Industrieareal Hüttengelände mit derzeit rund 200 Wohneinheiten. Erschlossen mit Kalter Nahwärme. Was erstmal, wie es in einem Erklärvideo heißt, paradox klingt: Ein Wasser-Glykol-Gemisch wird im Boden auf acht bis zwölf Grad erwärmt und dann im Haus über eine Wärmepumpe genutzt. Und Kühlung im Sommer geht auch.
Die Wärmepumpen werden sämtlich von den Stadtwerken gesteuert, über das bis in die Häuser verlegte Glasfasernetz. Dass mit dem Stromnetz gleichzeitig Glasfaser verlegt wird, ist inzwischen „ein Klassiker“, sagt Stadtwerke-Chef Dieter Lindauer, der seit 2018 in Neustadt ist. Die Leitungen können an Telekommunikationsunternehmen vermietet werden. Aber warum dann nicht die ganze Stadt, alle 34 Ortsteile, erschließen und selbst Telekommunikationsanbieter werden? Mitte 2020 gab es für diese Idee grünes Licht aus der Politik, vom Aufsichtsrat der zu 100 Prozent kommunalen Stadtwerke.
Das war der Startschuss für gleich mehrere Rennen. Gegen die Konkurrenz, regionale und bundesweite Anbieter, die auch auf dem Weg nach Neustadt waren. Unter den Stadtteilen: Wer die meisten Verträge hat, wird als erstes angeschlossen – ein Köder für Windhunde sozusagen. Und innerhalb der eigenen Organisation. „Wir hatten nichts“, erinnert sich Dieter Lindauer. „Keine Marke. Keine Tarife. Keine Verträge.“
Wenn Lindauer und sein Marketing-Chef Steffen Schlakat heute ruhig dasitzen und erzählen, lässt sich nur an den Zah[1]len erkennen, was das für eine Zeit gewesen sein muss. 400 Kilometer Trasse, bis zu sieben Tiefbaufirmen gleichzeitig beschäftigt. Rund 8500 Kunden mit rund 11.000 aktiven Verträgen. Anschlussquoten in den Ortsteilen – außer der Kernstadt . zwischen 40 und 70 Prozent, zumeist über den zuvor in mit hohem Aufwand sorgfältig festgelegten Zielgrößen. Mittlerweile 300 Gewerbekunden, obwohl die ursprünglich gar nicht eingeplant waren. Die städtischen Einrichtungen angeschlossen, klar – einschließlich der Glasfaser-Anschlüsse für die Schulen. Was während der Coronazeit für den Fernunterricht wichtig war.
„Die analoge Welt klappt nicht, wenn Sie Erfolg haben.“
Natürlich hat die Telekommunikationstochter der Stadtwerke inzwischen längst Marke und Namen: rasannnt. Aus der Region für die Region, so der Slogan, mit bis zu 1000 Mbit pro Sekunde. Und dann sagt Lindauer einen bemerkenswerten Satz: „Die analoge Welt klappt nicht, wenn Sie Erfolg haben.“ Soll heißen: Es ist nicht nur so, dass ein Angebot durch digitalisierte Abläufe verbessert, leichter zugänglich, mehr nachgefragt wird. Sondern auch, dass man etwas, das einem aus den Händen gerissen wird, eigentlich nur noch digital abwickeln kann. Zwar habe man, so Lindauer, den Markthochlauf mit Papierverträgen und Aktenkarussell noch geschafft. „Aber Papierverträge sind die Hölle.“ Nämlich gerne unvollständig, fehlerhaft und nachbearbeitungsbedürftig.
Die Stadtwerke-Antwort: pattr. Diese Digital-Tochter entwickelt digitale Lösungen für Energie- und Telekommunikationsanbieter, zunächst natürlich für Neustadt selbst. Von der Kundenbestellung bis ins Abrechnungssystem, Verknüpfung und Einbindung unterschiedlichster Softwaresysteme sowohl innerhalb des Unternehmens als auch extern: Durchgehende Digitalisierung ohne großen Systemumstieg bei der IT, so das Versprechen. Pattr nutzt die Open-Source-Software Neos und setzt auf Low-Code-Programmierung. Und in Neustadt hätte man auch gerne die Anerkennung als niedersächsischer Low-Code-Standort.
„Aus der kommunalen Energiewirtschaft, für die kommunale Energiewirtschaft“ – das ist das Leitmotiv. Kunden sind neben der Stadtwerke-Mutter und Schwestergesellschaften wie rasannnt unter anderem die Stadtwerke Garbsen, Emden oder Soltau. Pattr-Chef ist übrigens Dieter – also Dieter Lindauer. Vorname reicht im jungen Digitalunternehmen mit einem Durchschnittsalter des 14-köpfigen Teams von 28 Jahren. Das Du ist zudem durchgehend Standard auf den Stadtwerke-Websites.
Das Dach heißt: Ideenstadtwerke
In Neustadt spielt man mit lange gewachsener Tradition und Seriosität auf der einen, modern-zukunftsorientiertem Anspruch auf der anderen Seite. Zusammengeführt ist beides im Namen Ideenstadtwerke, unter dem das kommunale Unternehmen inzwischen auftritt: „Glasfaser in Stadtwerke-Qualität“ – mit diesem Slogan zum Beispiel wird für den Netzanschluss geworben. Waren die Neustädter in den Gründerjahren fortschrittsstolz, so bringt heute Dieter Lindauer ein anderes Wort: Leistungsstolz. Ein Produkt, das einem aus der Hand gerissen wird, das macht etwas mit einem Unternehmen. Und das macht, so Marketing-Chef Schlakat, auch die Suche nach Fachkräften leichter. Es kommen die, die etwas verändern möchten, „die gewillt sind, Gas zu geben“, sagt Schlakat.
Wobei: Das Bild vom Gas geben, das eigentlich so nahe liegt, passt eben immer weniger. Dieter Lindauer liegt mit seiner Prognose, dass das ertragsstarke Gasgeschäft in den kommenden zehn Jahren um 30 bis 40 Prozent zurückgehen wird, ziemlich genau bei einer Studie, die vom VKU, dem Verband kommunaler Unternehmen, in Auftrag gegeben wurde. Und zwar noch vor Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine. Ähnlich der Strommarkt: Dezentrale Produktion, komplexe Produkte und zunehmender Wettbewerb können auch hier laut Studie für zweistellige Umsatzeinbußen sorgen. „Die Entwicklungen der kommenden Jahre werden für diejenigen Stadtwerke kritisch, die auf business as usual setzen“, heißt es. Was bedeutet: Der VKU ging zumindest damals, vor drei Jahren, noch davon aus, dass nicht alle Stadtwerke wie Neustadt und viele andere auf Zukunftssuche sind.
Glasfaser als Zukunftskonzept – auch für die Bilanz
Fast scheint es, als ob der VKU genau nach so etwas wie Ideenstadtwerken rufen würde. In Neustadt jedenfalls sollen die Erträge aus dem Glasfaser-Geschäft die Einbußen beim Gas wettmachen, soll in gut zehn Jahren das rund 60 Mio. Euro teure Netz abgeschrieben sein. Damit die Stadtwerke auch künftig im besten Fall der Stadt eine Dividende bringen, zumindest aber zum Beispiel das Schwimmbad finanzieren können. Und vor allem: die Selbstständigkeit der Stadtwerke garantieren: „Wir wollen nicht aufgekauft werden“, sagt Dieter Lindauer. Mit den Ideen ist man in Neustadt daher auch noch nicht durch. Wenn man sich schon Ideenstadtwerke als Dachmarke aussucht, dann ist das schon eine Selbstverpflichtung, dann muss man auch Ideen haben: Sagt Dieter Lindauer und spricht über die Möglichkeit, Computer-Abwärme zur Beheizung von Gebäuden zu nutzen. Müsste man mal untersuchen, aber: „Ich komm‘ nicht dazu.“