Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie: Wie anders als mit Innovationen soll die erhalten werden? Dabei spielt der Wissenstransfer von der Forschung in die Wirtschaft eine wesentliche Rolle. Doch der könnte verbessert werden: Das wurde während der Hannover Messe in gleich zwei Veranstaltungen deutlich.
Das Scharnier zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist in Deutschland mindestens schwergängig. Immerhin: Eingerostet wohl nicht. Aber es quietscht.
Vielleicht lässt sich sogar in Zahlen fassen, wie schwergängig der Wissenstransfer, wie groß die Kluft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft tatsächlich ist. Beim Schlüsselthema Künstliche Intelligenz – darum ging es Mitte April beim Gipfel für Forschung und Innovation in Hannover – glaubt man in gut der Hälfte der deutschen Hochschulen, international wettbewerbsfähig zu sein. Wobei der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, der die Hochschulen befragte, gleich anmerkt: nur die Hälfte. Fragt man allerdings Industrieunternehmen nach ihrer KI-Wettbewerbsfähigkeit, antworten lediglich sechs Prozent mit hoch oder sehr hoch. Und in der IT-Branche sehen die Zahlen kaum besser aus.
Eine Hochschul-Ausbildung, die bei KI vielerorts auf dem Stand der Dinge ist. Spitzenforschung, kluge Köpfe, gute Ideen: Beim Forschungs- und Innovationsgipfel, der nach zehn Jahren in Berlin erstmals im Rahmen der Industriemesse in Hannover stattfand, waren derart selbstbewusste Stimmen durch die Bank zu hören. Und ein Satz von Jonas Andrulis, als Chef des Heidelberger KI-Unternehmens Aleph Alpha gerade wohl der KI-Hoffnungsträger in Deutschland, lässt aufhorchen: In seiner Zeit bei Apple seien zwanzig Prozent seines ziemlich großen KI-Teams aus Deutschland gekommen, sagte er in Hannover.
Wissenstransfer – in die falsche Richtung
Und beschreibt damit eines der Probleme: Top-Leute, bestens ausgebildet und hoch motiviert, gehen dahin, „wo sie die Welt verändern können“, sagt Andrulis. Also gerne zu den großen Tech-Konzernen in den USA. Das ist auch eine
Art von Wissenstransfer. Nur, aus deutscher Sicht, in die falsche Richtung. Andrulis erklärte in Hannover, dass Aleph Alpha nicht zuletzt ein Signal an die Abgewanderten sein soll: Es geht auch in Deutschland. Umso wichtiger, weil zum Beispiel das Handelsblatt im Mai berichtete, dass auch die arabischen Emirate KI-Fachleute und Unternehmen umwerben.
In der bislang jüngsten Finanzierungsrunde hat Aleph Alpha über 500 Mio. Euro eingesammelt. Der Facebook-Konzern Meta allein kündigte für dieses Jahr bis zu 45 Mrd. US-Dollar an KI-Investitionen an. Microsoft zweigt von seinen Gesamtinvestitionen in Künstliche Intelligenz gut 3 Mrd. Euro für Cloud- und KI-Infrastruktur in Deutschland ab. „Europa war zu Beginn der KI-Forschung, insbesondere bis zum Jahr 2015, der führende Wissenschaftsstandort“, schrieb der Stifterverband im Vorfeld des Forschungs- und Innovationsgipfels. Seitdem: Rückgang bei Patenten und Publikationen.
KI – abgehängt oder noch nicht?
Ist also Deutschland, ist Europa bei KI schon abgehängt? „Nein“, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz, der während seines Messebesuchs auch zum Forschungs- und Innovationsgipfel kam. Andere verweisen dagegen auf Zahlen. Nicht nur bei den Investitionssummen, sondern auch bei den Gründungen. Zwischen 2013 und 2022 wurden in den USA über 4600 KI-Firmen gegründet. Jedenfalls nach der Zählung des AI Index Report der Stanford University. In Deutschland? 245. „Die Amis nehmen uns nicht mehr ernst“, so eine Stimme beim hannoverschen Gipfel in diesem Zusammenhang.
Gerade warnte auch eine Gruppe von Forschern um den Ökonomen Clemens Fuest in der FAZ vor der Mitteltechnologie-Falle, in der Deutschland und insbesondere Europa stecken könnte. Konkret: In den USA und zunehmend auch in China wird weiter in IT-High-Tech investiert, was für disruptive Entwicklungssprünge sorgt. Dagegen wachse EU-weit die Bedeutung klassischer Industrien. In eine ähnliche Richtung kann man auch Dr. Georg Schütte verstehen: Der Generalsekretär der Volkswagenstiftung betonte beim Innovations- und Forschungsgipfel in Hannover, wie gut die deutsche Industrie aufgestellt sei bei der inkrementellen, also schrittweisen Entwicklung bestehender Technologien bis zur Perfektion. Man müsse allerdings zeigen, dass man auch mit disruptiven Entwicklungen umgehen könne.
Aber ist der Abstand schon so groß, dass man sich etwa in der KI gar nicht mehr am Rennen um die großen Basismodelle – wie zum Beispiel ChatGPT – beteiligen sollte? Sondern das Heil darin suchen muss, Künstliche Intelligenz für industrielle Anwendungen zu nutzen? Das ist eine von mehreren Grundsatzfragen, die dem diesjährigen Forschungs- und Innovationsgipfel als Leitlinien dienten.
Verantwortung für die Zukunft
Mit einer klaren Antwort darauf tat man sich in Hannover noch ziemlich schwer. Trotz aller zahlenmäßigen Unterschiede: Neben dem „Wir-sind-nicht-abgehängt“-Statement des Bundeskanzlers gab sich David Faller, F&E-Verantwortlicher bei IBM, zumindest verhalten optimistisch. Abgehängt oder nicht? Schon die Frage zu stellen bedeute, dass sie noch nicht entschieden sei. Und ganz unabhängig davon forderte Jonas Andrulis, schon aus Verantwortung für die Zukunft dürfe sich Deutschland nicht nur auf die bloße Anwendung von KI-Modellen beschränken: „Die nächsten Generationen werden in einer Welt aufwachsen, die von KI gebaut wird.“ Deshalb: „Wir können die Grundlagenmodelle nicht aufgeben“, sagte Andrulis.
Weitgehend einig waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Gipfels aber, was Deutschlands Potenzial für die KI-Nutzung angeht. Die Kombination macht’s: Forschung und Lehre auf Spitzenniveau. Und dazu ein breiter technologieorientierter Mittelstand im Land der verborgenen Marktführer – aka Hidden Champions: Beste Voraussetzungen für die Anwendung, und alles zu besichtigen in den Hallen der Hannover Messe. „Sie sind hier genau richtig“, frohlockte denn auch Ministerpräsident Stephan Weil zur Begrüßung der Gipfelteilnehmenden. Dass der Schritt nach Hannover durchaus bewusst getan wurde, wobei Volkswagenstiftung und die Messe AG wesentlich beteiligt waren, machte Andrea Frank vom Stifterverband gleich zu Beginn deutlich und sprach von einem Zeichen.
Technologie-Schaufenster Hannover Messe
Schließlich ist in Hannover mit rund 1300 ausstellenden Unternehmen und Institutionen allein aus Deutschland die Industrie. Also eigentlich ein guter Ausgangspunkt, um die eingangs beschriebene Kluft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zu überwinden. Zumal Wissenschaft, Forschung und Entwicklung seit langem fester Teil der Messe sind. Schon ein passender Schauplatz also für den Forschungs- und Innovationsgipfel, der neben dem Stifterverband und der Volkswagenstiftung von der Leopoldina sowie der Expertenkommission Forschung und Innovation – kurz EFI – veranstaltet wird.
Denn es ist da eben noch Luft nach oben. Mit den Worten von Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, ebenfalls Teilnehmerin des Gipfels: „Wir haben die Komponenten, aber wir bringen sie noch nicht zusammen.“ Das kann sich Deutschland einfach nicht leisten. Und richtig eng wird es in einem Bereich, der sich so schnell entwickelt wie KI.
Nicht nur eine KI-Strategie – sondern 17
„Wir kriegen das nicht auf die Kette, jedenfalls nicht schnell genug.“ So etwas war in Hannover immer wieder zu hören. Wo es hakt es denn? Föderale Zersplitterung der Kräfte könnte ein Thema sein: „Ist ja doll, wir haben nicht nur eine KI-Strategie, wir haben 17“, sagte Alexander Schweitzer, rheinland-pfälzischer Minister unter anderem für Digitalisierung und Transformation, einigermaßen bissig. Vielleicht auch ein Stück Mentalität? Gern gefordert wird mehr Risikobereitschaft, doch die muss man erst mal wecken. Jonas Andrulis: „Wir sind geübt darin, abgefahrenen Zügen hinterher zu weinen.“
Aber beim Forschungs- und Innovationsgipfel wurden auch noch weitere, sehr konkrete Hemmnisse herausgearbeitet, die den Schritt von der Wissenschaft in die Wirtschaft schwer machen. In aller Kürze: zu wenig Geld und zu viele Regelungen.
„Das öffentliche Tarifrecht ist ein Killer für Kollaboration“, brachte es zum Beispiel Georg Schütte auf den Punkt. Hochschulbeschäftigte als Mitarbeitende in Unternehmen, in bestehenden oder neu gegründeten? Schwierig. Ebenso wie Forschungs- oder gar Gründungssemester. Und ein ganz heißes Eisen, das wurde in Hannover nur allzu deutlich: der Umgang mit geistigem Eigentum. Es geht um die so genannten IP-Lizenzen, wobei die Abkürzung für Intellectual Properties steht. Patente zum Beispiel: Wie werden die bewertet, wenn sie zwar im akademischen Umfeld entwickelt, aber dann in Unternehmen genutzt werden? Wenig erfolgsorientierte Lizenzvereinbarungen für geistige Eigentumsrechte sorgen dafür, dass Patente und Innovationschancen ungenutzt bleiben: Das gilt auch für Niedersachsen, wie ein gemeinsames Impulspapier der Volkswagenstiftung und Niedersachsen Startup feststellt.
Das alles hat eine große Überschrift: Mehr Durchlässigkeit zwischen Forschung und Wirtschaft. Dass das ein Hebel ist, um für den Wissenstransfer zu verbessern und damit Innovationen nicht nur überhaupt, sondern schneller zu ermöglichen, wurde in Hannover immer wieder betont. Und zwar nicht nur bei Künstlicher Intelligenz. Denn grundsätzlich gilt: „Wenn eine Innovation nicht an den Markt geht, geht sie nirgendwohin.“
Premiere eines Innovationsdialogs in Niedersachsen
Dieser Satz fiel nicht beim Innovationsgipfel, sondern einen Tag später beim ersten Niedersächsischen Innovationsdialog, ebenfalls im Umfeld der Hannover Messe. Zugeschrieben wird das Zitat Amir Banifatemi, der von der Volkswagenstiftung ausdrücklich zum Innovationsdialog eingeladen wurde, um beim Thema Innovation groß, um nicht zu sagen, visionär zu denken. Sich trauen, nach den Sternen zu greifen, so die Botschaft Banifatemis. Oder, nun ja, etwas erdnäher: nach dem Mond. Moonshot Thinking – gemeinsam das nahezu Unmögliche erreichen zu wollen, in Anlehnung an das US-amerikanische Raumfahrt-Programm nach 1960.
Mehr Durchlässigkeit zwischen einer gut aufgestellten Forschung und wirtschaftlicher Anwendung in Niedersachsen: Darum ging es bei der Premiere des Innovationsdialog. Dazu haben die Volkswagenstiftung und Startup Niedersachsen ein gemeinsames Papier vorgelegt, das die Bedingungen für Start-Ups aus der Wissenschaft in den Mittelpunkt stellt. Junge Unternehmen, aus Hochschulen heraus gegründet, bringen naturgemäß Innovationen aus der Wissenschaft in die praktische und kommerzielle Anwendung. Das Papier ist gedacht als eine erste, aber schon ziemlich umfassende Grundlage, um darüber zu diskutieren, wie sich in Niedersachsen „eine ambitionierte und zukunftsfähige Förderung wissenschaftlicher Ausgründungen“ – so der Untertitel – erreichen lässt.
Das Papier kommt zwar moderat daher, dürfte den Stäben von Wirtschaftsminister Olaf Lies und Wissenschaftsminister Falko Mohrs – beide waren beim Innovationsdialog dabei – doch einiges zu Grübeln geben. Zum Beispiel diese Feststellung: Es gibt zwar viele Ansätze in Niedersachsen, die aber sind „im Vergleich zu führenden nationalen und internationalen Gründungshotspots zu schwach aufeinander abgestimmt.“ Als führend in Deutschland gilt etwa die TU München mit ihrem Innovations- und Gründungszentrum UnternehmerTUM.
In Niedersachsen dagegen ist die Liste der Verbesserungsmöglichkeiten aus Sicht von Volkswagenstiftung und Startup Niedersachsen lang: Zu wenig Gründungsanreize und unzureichende unternehmerische Qualifikation bei Studierenden. Eine zu wenig auf die Besten konzentrierte Forschungsförderung, stattdessen Zersplitterung durch anteilige Förderung für alle Standorte. Unterschiedliche Zeithorizonte bei Bundes- und Landesförderung. So etwas bremst nicht nur Innovation, sondern auch die Gründung von Start-Ups aus der Wissenschaft heraus. Zu viel Bürokratie, zu wenig Digitalisierung, fehlende Standards. Dabei ist die Liste noch nicht einmal komplett.
Und dann wäre da noch das Geld. Immerhin: Erst im März hatte das Statistische Bundesamt Zahlen veröffentlicht, nach denen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in Deutschland mit etwas mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts leicht über dem EU-Ziel liegen. Allerdings hinter beispielsweise den USA.
Mehr privates Kapital mobilisieren
Trotzdem bleibt Geld ein Thema. Volkswagenstiftung und Niedersachsen Startup schlagen einen eigens auf die Hochschulen zielenden Wachstumsfonds vor und fordern außerdem, auch externe Deep-Tech-Fonds in die Start-Up-Finanzierung einzubinden. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte beim Innovationsgipfel ein Vorhaben an, dass einen Tag später die aus Hannover stammende Start-Up-Beauftragte der Bundesregierung, Dr. Anna Christmann, in ihrer Heimatstadt bestätigte: Es geht darum, etwa über die Öffnung von Rentenfonds weiteres privates Kapital für die Gründungsfinanzierung zu gewinnen.
Bei aller Konzentration Start-Ups jedoch blieb es Wirtschaftsminister Olaf Lies vorbehalten zu erwähnen: Es geht beim Wissenstransfer nicht nur um die Ausgründungen, sondern auch um die Nutzung von Forschungsergebnissen durch bestehende Unternehmen. Genug zu tun also, um das Scharnier für den Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft leichtgängiger zu machen, die Durchlässigkeit zu erhöhen. Allerdings gilt auch: Ein Erkenntnis-Problem hatte Deutschland noch nie. Insbesondere, wenn sich akademische Spitzen sich einer Frage widmen. Bleibt die Umsetzung. Der Doppelpack mit zwei hochkarätigen Veranstaltungen in Hannover sollte insofern nur ein Auftakt sein. Fortsetzung folgt: Zum Beispiel Mitte Juni beim Norddeutschen Transfer- und Innovationsgespräch, wieder organisiert von der Volkswagenstiftung. Denn noch konnte man den Eindruck gewinnen, dass Wissenschaft und Politik zwar im Rahmen der Hannover Messe zusammen kamen, aber doch im Wesentlichen untereinander diskutierten. Mit dem Transfer- und Innovationsgespräch in Hannover bietet sich schon bald eine Gelegenheit, das zu ändern.