Sie berät Unternehmen, verkauft Braut- und Abendkleider und gibt Deutschkurse für Menschen aus der Ukraine: Seit April 2022 trifft sich die Göttinger Unternehmerin Larissa Kirchner einmal in der Woche für zwei Stunden mit Geflüchteten, die sie inzwischen auch in feste Jobs vermittelt.
Sie blicken konzentriert auf ein Blatt Papier, das vor ihnen auf dem Tisch liegt. Während eine Frau langsam die ihr fremden Worte liest, verfolgen einige Finger und Stifte die Textzeilen auf dem Arbeitsblatt. „Das macht einundzwanzig Euro siebzig“, sagt eine Frau und ergänzt kurz darauf „Ich habe es passend.“ Die Teilnehmenden des Deutschkurses von Larissa Kirchner üben gerade für das „Deutsch lernen beim Frühstücken“, das wenige Tage später in einer Göttinger Bäckerei stattfinden soll.
Die Arbeitsblätter für ihren Unterricht erstellt die Unternehmerin überwiegend selbst, abgestimmt auf das Unterrichtsthema. Bereits über 70 Menschen haben ihren ehrenamtlichen Deutschkurs seit dem Start im April 2022 besucht – einige sind schon seit über einem Jahr dabei. „Deutsch zum Anfassen“ nennt Larissa Kirchner ihr Projekt, das sie in Kooperation mit der AWO und Bonveno ins Leben rief, um Migranten mit geringen Sprachkenntnissen, insbesondere Geflüchtete aus der Ukraine, beim Deutschlernen zu unterstützen. Neben dem
Deutschunterricht ging es ihr auch auch um das Kennenlernen der deutschen Kultur, der Bräuche und Traditionen und das Aufzeigen von beruflichen Perspektiven in Kooperation mit örtlichen Bildungsträgern und der Wirtschaft.
Man lernt die Sprache am besten in der Praxis – berufsbezogen
„Deutsch lernen, direkt am Arbeitsplatz und berufsbezogen“ – so beschreibt Kirchner die zweite Phase ihres Projekts, die sie im August eingeleitet hat. Sie will ihre Kursteilnehmerinnen in den Arbeitsmarkt vermitteln. Dafür sucht sie Unternehmen, die freiwillig Praktikumsplätze für die Dauer von vier bis zwölf Wochen zur Verfügung stellen möchten. Neben dem Reinschnuppern in das Tätigkeitsfeld und die betrieblichen Abläufe soll während des Praktikums auch das Erlernen der deutschen Sprache, insbesondere berufsorientiert, unterstützt werden. Parallel zum Praktikum vermittelt sie im Deutschunterricht die berufsbezogenen Fachbegriffe und übt das Sprechen.
Die Göttinger Bäckerei Hermann hat im Herbst einer Teilnehmerin ein vierwöchiges Praktikum ermöglicht – bereits nach drei Tagen bekam die Praktikantin eine Zusage zur Festanstellung. „Die Frau weiß, was sie tut“, sagte der Personalleiter. „Sie muss nur weiter die Sprache lernen.“ Um die Deutschkenntnisse zu erweitern, darf parallel zu der Vollzeitstelle, der Deutschunterricht weiterhin besucht werden – darauf legt die Bäckerei Hermann sehr großen Wert. Aufgrund der guten Erfahrung werden dort auch weitere Praktikumsplätze zur Verfügung gestellt.
Sie berät Unternehmen und führt ein Braut- und Abendmodegeschäft in Göttingen
„Man lernt die Sprache am besten, wenn man sie direkt in der Praxis anwendet“, sagt die Lehrerin für Mathematik und Informatik, die als Russlanddeutsche Anfang der 1990er Jahre nach Göttingen kam und damals keine Zulassung für das Lehramt erhielt.
Sie musste beruflich neu anfangen und absolvierte nach einer kaufmännischen Ausbildung auch nebenberufliche Fortbildungen zur Bilanzbuchhalterin und Betriebswirtin. Neben ihrer Tätigkeit im Bereich kaufmännisches Management betreibt sie seit neun Jahren ein Braut- und Abendmodegeschäft in der Göttinger Innenstadt. Es war eine Anzeige in der Unternehmensbörse in diesem Magazin, die sie auf den Laden aufmerksam machte. Und weil sie an Mode, Stoffen und am Nähen seit ihrer Jugend großes Interesse hatte, übernahm sie den Laden.
Unternehmer stellt Seminarraum
Einmal die Woche trifft sie sich für anderthalb Stunden mit ihrem Deutschkurs immer dort, wo die Gruppe einen Seminarraum kostenfrei gestellt bekommt. Die Vorbereitung für den Kurs macht sie vormittags oder zwischendurch. Seit Anfang Juli kann sich der Deutschkurs in einem Raum der Göttinger Dres. Schlegel + Schmidt Med. Kommunikation GmbH treffen. Der Geschäftsführer der auf Pharma- und Medizintechnikunternehmen spezialisierten Agentur, Dr. Hauke Schmidt, unterstützt das Projekt von Larissa Kirchner gern. Nachdem er den Kurs und die Teilnehmenden kennengelernt hatte, bot er zusätzlich auch einen Praktikumsplatz in seinem Unternehmen an, um ebenfalls das Deutsch lernen am Arbeitsplatz zu ermöglichen. „Man kann sich nicht immer nur über den Fachkräftemangel beklag
en, sondern muss sich auch mal selbst aus der Komfortzone bewegen“, sagt Schmidt. Da die Sprachkenntnisse der Ukrainer für die Arbeit im Büro allerdings noch nicht ausreichten, hatte er zuvor sein Team miteingebunden. „Es geht darum, das Berufsleben, den Alltag im Büro kennenzulernen – und nicht am Ende dort auch übernommen zu werden“, sagt Larissa Kirchner. Bei Swetlana, die das zwölfwöchige Praktikum absolvierte, habe sie nach wenigen Tagen gesehen, dass sich beim Sprechen und Satz bilden ganz deutliche Verbesserungen zeigen. „Am Ende konnte man sich schon gut mit ihr unterhalten“, erinnert sich der Geschäftsführer, der hofft, dass sich auch andere Unternehmen für solche Praktika öffnen. „Wenn jede und jeder nur etwas einbringt oder ermöglicht, hat es in der Summe einen großen Effekt“, sagt der 47-Jährige, der die Agentur mit heute 45 Mitarbeitenden vor elf Jahren von seinem Vater übernahm.
Larissa Kirchner ist bei Rückfragen oder Interesse am Projekt „Deutsch zum Anfassen“ am besten per E-Mail erreichbar. deutsch-zum-anfassen@web.de