Vielleicht ist nicht alles anders bei Arineo. Aber vieles. Das liegt weniger daran, was der vor fünf Jahren gegründete Göttinger IT-Dienstleister anbietet. Sondern im Selbstverständnis und in der Organisation des Unternehmens.
Da ist schon eine gehörige Lust zu spüren, andere und neue Wege zu gehen. Und das von Anfang an. Arineo: Den zweiten Teil des Namens könnte man als „neu“ lesen, wenn man sich auf νέος bezieht, den griechischen Ursprung der Silbe. Übersetzen kann man das aber auch mit „ungewöhnlich“. Hieß nicht der Programmierer mit den außerordentlichen Fähigkeiten in der Matrix-Trilogie Neo? Doch beides ist es nicht, oder allenfalls zum Teil. Es sind die beiden letzten Buchstaben, in denen eine der Besonderheiten des Göttinger IT-Dienstleisters steckt – e und o, employee owned: Bereits bei der Gründung 2018 wurde festgelegt, dass das Unternehmen spätestens nach zehn Jahren in die Hand der Beschäftigten geführt werden soll.
Arineo wird dieses Ziel wohl schon nach der Hälfte der geplanten Zeit erreichen. Die 53 bisherigen Gesellschafter verkaufen zum Jahresende ihre Anteile und überführen es anschließend in eine Stiftung. Die wiederum wird nach einem ausgeklügelten System von der Arineo-Belegschaft beeinflusst, und zwar über einen Mitte Juni gegründeten Verein. Die Stiftungsorgane, Präsidium und Vorstand, sind mit Mitarbeitenden besetzt. Hinzu kommt: Wer an der Spitze des Vereins steht, also den Vorstandsvorsitz innehat, wird automatisch Mitglied im Arineo-Aufsichtsrat. Der Verein wählt zudem die drei externen Mitglieder dieses Gremiums, von denen einer oder eine auch den Vorsitz übernimmt. Zwei weitere Aufsichtsratsmitglieder kommen aus der Reihe der Mitarbeitenden und werden von der gesamten Belegschaft gewählt.
Damit soll das Unternehmen praktisch unverkäuflich werden. Das betont auch Wibke Jellinghaus, die Vorsitzende des neuen Belegschaftsvereins. Jeder Arineo-Mitarbeitende kann und soll Mitglied werden, muss es aber nicht, sagt Jellinghaus.
Den Weg dahin hatten sich die Arineo-Gründer allerdings leichter vorgestellt. Martin Schweicher ist einer von ihnen: Die Mitarbeitenden übernehmen das dann einfach, das war die ursprüngliche Idee. Die dann aber keineswegs so einfach umsetzen ließ. Eine passende Unternehmensform gibt es nicht, darüber gerade erst wieder diskutiert. Bis das Konzept also stand, forderte das von Arineo einiges an Arbeit.
Gekommen um zu bleiben
Wirtschaftsminister Olaf Lies, der Arineo Mitte Juli auf seiner Sommerreise besuchte, klopfte das Modell sofort auf seine Standortvorteile ab. Vor allem: Ein Unternehmen, das nicht verkauft werden kann, bleibt dauerhaft und ist unvermeidlich der Region verbunden. „Total spannend“, sagte Lies. Und dass, wie der Minister anregte, auch andere auf die bei Arineo gesammelten Erfahrungen nutzen können, steht so bereits in der Stiftungssatzung: Das Göttinger Unternehmen will sein – teils auch teuer erkauftes – Wissen weitergeben. Und zur Lust, neue und andere Wege zu gehen, gesellt sich da wohl auch Stolz. Natürlich gibt es schon länger Unternehmen, die in der Hand ihrer Mitarbeitenden, also Employee Owned Companies sind – aber bei Arineo hat mein einen eigenen Weg dafür gefunden.
Es gibt noch eine weitere, nicht minder wesentliche Besonderheit. Das Unternehmen ist kollegial organisiert. Das bedeutet unter anderem: Es gibt keine Führungskräfte, etwa in Form von Abteilungsleiterinnen oder -leitern. Was die üblicherweise machen, wird in einzelne Funktionen aufgespalten und auf mehrere Schultern verteilt. Die Koordination eines Teams oder die Auslastung der Mitarbeitenden werden so gesteuert. Wer das macht, wird in den Arbeitsgruppen selbst bestimmt. Auch für Fragen beispielsweise zum eigenen Arbeitsvertrag braucht es keine Führungskräfte, sondern es gibt Ansprechpersonen, die sich darum kümmern.
Und es funktioniert. „Wir brauchen die Geschäftsführung eigentlich nur in Krisenzeiten“, sagt Dr. Marko Weinrich. Er ist Sprecher der Geschäftsführung – und auch er arbeitet in Projektteams mit: Ganz normal. Jedenfalls bei Arineo. Und wenn es um Sachfragen während eines Projekts geht, gilt das Konsent-Modell: Wer mit einem Vorschlag, mit einem Lösungsansatz nicht einverstanden ist, muss einen anderen auf den Tisch legen und sein Team überzeugen – oder den bestehenden akzeptieren.
Kein Wünsch-Dir-was
Das alles ist aber kein Selbstzweck. Darauf legt man bei Arineo Wert. Nicht Basisdemokratie, kein Wünsch-Dir-was. Sondern ein Konzept für den Erfolg des Unternehmens. „Könnt Ihr auch Geld verdienen?“ Das werde er immer wieder gefragt, sagt Marko Weinrich. Seine Antwort ist ein äußerst selbstbewusstes Ja. Und auch in der neuen Konstruktion, darauf weist er ausdrücklich hin, bleibt die Arineo eine GmbH und auf unternehmerischen Erfolg ausgerichtet.
Wie offensichtlich bislang schon. In diesem Jahr setzt die Arineo GmbH voraussichtlich zwischen 45 Mio. und 47 Mio. Euro um. Damit liegt man noch über den Plänen bei der Gründung des Unternehmens. Und das, obwohl in diesem Jahr auch Aufträge wegfielen. Zum Vergleich: Im ersten kompletten Geschäftsjahr 2019 waren es rund 13 Mio. Euro Umsatz. Auch nicht gerade wenig für eine Neugründung. Aber Arineo ist auch da besonders. Es war kein Start aus dem Nichts: Im Unternehmen, das ziemlich schnell vom Niederrhein nach Göttingen umsiedelte, kamen IT-Fachleute mit teils langjähriger Erfahrung und entsprechenden Kundenkontakten zusammen.
Arineo berät mittelständische Unternehmen bei IT-Projekten in allen Bereichen. Dabei sind die Göttinger Partner von SAP und Microsoft, und besonders beim US-Konzern hat man dabei einen Stein im Brett. Und weil man Aufträge, die über diese Schiene kommen, nicht mehr als unvermeidlich ablehnen will, „ist Arineo zum Wachstum verdammt.“ Sagt Weinrich, und es klingt bedrohlicher, als es gemeint ist. Weiter zu wachsen, das scheint ihm und den anderen bei Arineo genau so viel Spaß zu machen wie Neues auszuprobieren.
Heute hat das Unternehmen 17 Standorte, darunter insgesamt fünf in Österreich, Dänemark und China. Wachsen: Das geht bei einer IT-Beratungsfirma nur über neue Leute. Und die müssen auch bleiben. Hier schließt sich der Kreis: Die Sicherheit eines Unternehmens in der Hand seiner Mitarbeitenden, das nicht über deren Köpfe hinweg verkauft werden kann, die kollegiale Organisation oder auch Gehaltsstrukturen ohne Provision, das alles überzeugt. Denn Unternehmensverkäufe, verbunden mit höheren Renditeanforderungen und Arbeitsdruck, sind in der Branche an der Tagesordnung. Die Fluktuation in IT-Unternehmen liegt, so Weinrich, bei rund 22 Prozent der Belegschaft pro Jahr. Bei Arineo sind es unter vier Prozent, angestrebt werden zwei. Zu 31 Prozent arbeiten Frauen im Unternehmen, mehr als im Branchenschnitt. Und für jede einzelne Stelle ist Teilzeit möglich. Das alles sorgt für Stabilität: Kunden und Softwarepartner kennen und vor allem behalten ihre Ansprechpersonen. Und die Erfahrung, die die Menschen bei Arineo sammeln, bleibt im Unternehmen.
Den ganzen Menschen im Blick
Dr. Astrid Selke, zuständig für Personal und Organisationsmanagement, beschreibt die Arineo-Denkweise so: „Wir nehmen den ganzen Menschen in den Blick.“ Und, zunächst überraschend: „Wir motivieren nicht.“ Denn jede und jeder will doch eigentlich etwas schaffen, lautet die Überzeugung: Also versucht man einfach nur, alles zu vermeiden, was Motivation zerstört.
Selbst der langfristig angelegte Nachfolgeplan für die derzeit fünfköpfige Geschäftsführung setzt auf einen kollegialen Ansatz. Seit diesem Sommer gibt es sechs Prokuristen, die aus der Belegschaft heraus an die Aufgaben an der Spitze des Unternehmens herangeführt werden. Und für sich selbst testen sollen, ob dieser Job für sie passt. Das soll sicherstellen, dass auch künftige Mitglieder der Geschäftsführung mit der Arineo-Kultur vertraut sind.
Entsprechend groß war die erweiterte Geschäftsführungskreis, auf den der Wirtschaftsminister bei seiner Sommerreise traf: Eher eine Tafelrunde, selbstverständlich ohne feste Sitz- oder Sprechordnung und ein Sprecher der Geschäftsführung, der zwar mit der Gabe schneller Rede ausgestattet ist, aber immer wieder als Moderator alle anderen in Boot holt: Ein Unternehmensgeist, den auch Olaf Lies offenkundig spürte. Arineo-Gründer Martin Schweicher formulierte es so: Es sei schon „eine besondere Gruppe von Menschen“, die man da um sich versammelt habe.
Der Name der Firma
Da steckt Sinn drin. Oder genauer – und obwohl das nicht deckungsgleich mit sinnvoll sein muss: Künstliche Intelligenz. Stehen die beiden letzten Buchstaben für employee owned, also für ein Unternehmen in der Hand seiner Mitarbeitenden, deuten die ersten vier in eine andere Richtung: artificial intelligence. Künstliche Intelligenz ist ein Thema für Arineo, das Unternehmen forscht und wird auch gefördert. Da geht es zum Beispiel, Stichwort Mobilitätswende, um Bilderkennung – wenn etwa Busse so ausgerüstet werden, dass sie Straßenschäden erkennen. Über KI informiert Arineo auch im Rahmen der Schulpartnerschaften, die das Unternehmen vereinbart hat, Schülerinnen und Schüler und ebenso die Lehrkräfte. Allerdings: „Wir setzen keine deutschen Machine-Learning-Algorithmen ein“, sagt Marko Weinrich. Einfach weil es keine passenden gibt.