Aufhebung einer Ausschreibung wegen grundlegender Änderung der Vergabeunterlagen nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2019 ausnahmsweise auch bei einer massiven Verschiebung der Ausführungszeit des Bauauftrags gerechtfertigt sein kann, wenn besondere Umstände hinzutreten.
Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, Containerengpässe und vieles mehr verursachen Lieferkettenstörungen. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Baustoffen sondern auch auf die Preisentwicklung. Die Verwendung von Stoffpreisgleitklauseln sollte derzeit eher Regel als Ausnahme sein.
Im entschiedenen Fall hatte der Antragsgegner, ein Landkreis, am 5. Mai 2021 die EU-weite Ausschreibung des Bauauftrages „Gymnasium W., Ersatzneubau, Los 9 WDVS“ im Offenen Verfahren bekanntgemacht. Grundlage war die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) – Ausgabe 2019. Der Auftrag ist Bestandteil eines Bauvorhabens im Umfang von mehr als 7 Mio. Euro, das bezogene Los 9 schätze der Landkreis auf 225.000 Euro brutto. Als Ausführungsfrist wurde die Zeit vom 27. August 2021 bis zum 23. Dezember 2021 angegeben. Die Angebotsfrist wurde auf den 14. Juni 2021, 10.00 Uhr, bestimmt. Die Angebotsöffnung sollte mit Fristablauf erfolgen.
Am 14. Juni jedoch hob der Landkreies noch vor dem Öffnungstermin um 10 Uhr das Vergabeverfahren auf. Die Bieter wurden mit Schreiben vom selben Tage über die Aufhebung in Kenntnis gesetzt. Der Versand über die Vergabeplattform erfolgte um 9.29 Uhr. Als Aufhebungsgrund wurde die notwendige grundlegende Änderung der Vergabeunterlagen wegen einer Verschiebung der Ausführungsfrist um sechs Monate angegeben. Im Zeitpunkt der Aufhebung der Ausschreibung waren insgesamt acht Angebote eingegangen, darunter das eines am 2. Juni 2021 mit einem Angebotsendpreis von 323.058,82 Euro brutto. Die hinter diesem Gebot stehende Bieterin rügte mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17. Juni 2021 die Aufhebung des Vergabeverfahrens als vergaberechtswidrig und machte geltend, dass weder der angegebene noch sonst ein rechtmäßiger Grund für eine Aufhebung der Ausschreibung vorliege. Der Landkreis half dieser Rüge nicht ab, verwies auf massive Bauzeitverschiebungen, die das mit den Rohbauleistungen beauftragte Bauunternehmen angezeigt hatte und stellte die Neuausschreibung des Bauauftrags in einem erneuten Offenen Verfahren in Aussicht.
Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2021 leitet die betreffende Bieterin ein Nachprüfungsverfahren bei der Vergabekammer ein, um das ursprüngliche Vergabeverfahren fortzusetzen. Es folgte der Hinweis des Landkreises, dass angesichts der Preisentwicklungen bei Baustoffen niemand eine Preisgarantie für mehr als ein halbes Jahr geben könne. Der ausgeschriebene Vertrag enthielt keine Preisgleitklausel. Die Aufhebungsentscheidung wurde vor dem Öffnungstermin und ohne Kenntnis der Angebotspreise getroffen. Die Vergabekammer wies mit Schreiben vom 23. August 2021 darauf hin, dass zwar keine grundlegende Änderung der Vergabeunterlagen vorliege, der Sachverhalt aber als ein anderer schwerwiegender Grund für eine Aufhebung i.S.v. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A zu bewerten sei. Mit Beschluss vom 4. Oktober 2021 wurde der Nachprüfungsantrag der Bieterin ohne mündliche Verhandlung als unbegründet zurückgewiesen. Gegen diese am 11. Oktober 2021 der Bieterin zugegangene Entscheidung richtet sie eine sofortige Beschwerde. Diese hatte keinen Erfolg.
Die Vergabekammer ist nach Ansicht des OLG Naumburg zu Recht von der Unbegründetheit des Nachprüfungsantrages der Antragstellerin ausgegangen. Der öffentliche Auftraggeber ist nach § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A 2019 berechtigt, ein Vergabeverfahren aufzuheben, wenn sich dessen Grundlage wesentlich geändert hat. Dieser Aufhebungsgrund ist gegeben, wenn die Änderung erst nach der Einleitung des Vergabeverfahrens eintritt, wenn sie nicht vom Auftraggeber selbst verursacht wurde und wenn sie so wesentlich ist, dass sie die Durchführung des Verfahrens und die Vergabe des Auftrags selbst ausschließt.
Im vorliegenden Fall trat die vom Antragsgegner angeführte Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens zeitlich erst nach dessen Einleitung auf und bestand auch objektiv. Die Auftragnehmerin der Rohbauarbeiten zeigte eine Bauzeitenverzögerung um rund sechs Monate an. Die Bauzeitverzögerung hat eine Verschiebung des Ausführungsbeginns der ausgeschriebenen Arbeiten um (mindestens) sechs Monate zur Folge. Die Veränderung der Bauzeit ist nicht vom AG verursacht worden und war zu Beginn der Ausschreibung der Leistungen für das Los 9 nicht vorhersehbar war. Diese Änderung ist in diesem Fall auch ausnahmsweise auch als eine wesentliche Änderung der Grundlagen der Vergabeunterlagen anzusehen.
OLG Naumburg, Beschluss vom 17. Dezember 2021, AZ: 7Verg 3/21
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