Zum zweiten Mal startet ein Ausbildungsjahr in der Pandemie. Corona hat auch den Blick auf die berufliche Ausbildung als Rückgrat der Fachkräftesicherung geschärft.
Sie kommen nicht zurück. Zumindest nicht alle: In der Gastronomie fehlt es an Personal. Köche, Restaurantfachleute, Beschäftigte in Minijobs haben der Branche während der Pandemie den Rücken gekehrt. Das behindert in so manchem Unternehmen den Neustart nach der Krise.
Erfolglose Suche nach Fachkräften auf leer gefegten Märkten: Was die Gastronomie derzeit allzu deutlich und erholungshemmend spürt, galt bereits vor Corona quer durch alle Branchen als Konjunkturrisiko Nummer eins. Im Sommer 2019 sahen in der Quartalsumfrage der niedersächsischen Industrie- und Handelskammern 60 Prozent den Fachkräftemangel als Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung. Ein Spitzenplatz, der in der Pandemie dann von der Sorge um die Inlandsnachfrage und von den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen übernommen wurde.
Aber das ändert sich gerade wieder. Zwar brach in den ersten Corona-Monaten mit der Konjunktur auch die Nachfrage nach Fachkräften ein. Doch, fast überraschend, war ein Tiefpunkt bereits im Juni vergangenen Jahres erreicht. Das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) jedenfalls sieht seitdem die Fachkräftelücke – definiert als Zahl der offenen Stellen, für die es keine passend qualifizierten Arbeitslosen gibt – wieder wachsen. Bei den akademischen Abschlüssen Diplom oder Master ist die Lücke heute laut IW sogar bereits wieder größer als vor Corona.
Trügerischer Zwischenstand
Fachkräfte mit einer beruflichen Ausbildung im Rücken werden dagegen derzeit noch nicht wieder so intensiv gesucht wie vor der Pandemie. Doch das dürfte aus verschiedenen Gründen ein trügerischer Zwischenstand mit kurzer Halbwertszeit sein. Denn: Auch wenn die Lücke zwischen offenen Stellen und Arbeitssuchenden bei den Absolventen einer Berufsausbildung derzeit noch kleiner ist als bei anderen Qualifikationen, gibt es in diesem Bereich die weitaus meisten unbesetzten Jobs, wenn man auf die absoluten Zahlen blickt. In diesem Mai fehlten in Deutschland laut IW fast 269 000 qualifizierte Arbeitskräfte. Davon entfielen mit etwa 156.500 rund 58 Prozent auf Fachkräfte, die eine Lehre im dualen Ausbildungssystem absolviert haben. Der Rest verteilt sich dann auf Fortbildungsabschlüsse oder die akademischen Qualifikationen, also Bachelor und Master oder Diplom.
Und das wird sich weiter verschärfen. Entscheidend sind dabei die grundsätzlichen demografischen Trends. In den nächsten Jahren werden die geburtenstarken Jahrgänge in Ruhestand gehen: So oft wurde das schon verkündet, dass man sich vorkommt wie Cato der Ältere mit seiner angeblich ständig wiederholten Forderung nach Zerstörung Karthagos, wenn man das schreibt.
Gleichzeitig sinkt die Zahl der Jugendlichen, die von den allgemein bildenden Schulen kommen. In Niedersachen wird es diesen Abwärtstrend bis 2028 geben, mit dann voraussichtlich weniger als 73.000 Jugendlichen. In den Jahren 2018 und 2019 waren es noch über 80.000. Bundesweit wird die Talsohle etwas früher erreicht. Unter dem Strich stehen aber Langfrist-Prognosen wie die des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom vergangenen Herbst. Danach fehlen 2040 in Deutschland 2,4 Millionen Fachkräfte mit beruflichem Abschluss.
Wenn also Fachkräfte mit dualer, beruflicher Ausbildung in deutlich größerer Zahl fehlen als akademische, dann ist klar: „Die duale und schulische Ausbildung ist das Rückgrat der Fachkräftesicherung in Deutschland.“ So steht es in einer Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (Kofa), die sich mit den Folgen der Pandemie beschäftigt. Corona setze einen ohnehin gestressten Ausbildungsmarkt weiter unter Druck, so der Tenor. Drastisch formuliert: Wenn das duale System der Ausbildung das Rückgrat der Fachkräftesicherung ist, können Fehlentwicklungen in diesem Bereich künftig noch richtig wehtun. Rückenprobleme eben.
Bereits in den vergangenen Jahren, so die Kofa-Studie, ist es Unternehmen zunehmend schwerer gefallen, Ausbildungsplätze zu besetzen. Das deckt sich mit den Ergebnissen der jährlichen Aus- und Weiterbildungsumfrage der Industrie- und Handelskammer. In Zahlen liest sich das so: Laut Kofa ging das Ausbildungsplatzangebot von 2007 bis 2020 um gut 18 Prozent zurück, die Lehrstellen-Nachfrage von Jugendlichen nach Ausbildungsplätzen im gleichen Zeitraum aber noch stärker um fast 25 Prozent. Selbst wenn diese Zahlen nicht den gesamten Markt erfassen, spricht doch viel dafür, dass sie den Trend richtig beschreiben.
Dieser Trend wird derzeit von den Pandemie-Folgen überlagert. Die Zahl der gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber hat sich im Vergleich zum Vorjahr 2020 bis zum Mai 2021 sogar noch einmal um rund acht Prozent, die der angebotenen Ausbildungsplätze um etwa drei Prozent reduziert.
Aber das Problem, Lehrstellen zu besetzen, ist nicht allein mit Zahlen zu erklären. „Die Berufsorientierung erweist sich als Achillesferse am Ausbildungsmarkt“, schreibt das Institut der Deutschen Wirtschaft.
Unternehmen und Jugendliche finden nicht zueinander: Auch das ein Problem, das durch die Pandemie noch einmal verstärkt wurde. Berufsorientierung ohne Praktika, ohne Berufsmessen vor Ort, ohne persönliche Begegnung. Und vielleicht hat ja auch die Sorge, in den vergangenen Monaten Unterrichtsstoff versäumt zu haben, bei Eltern und Jugendlichen zu der Entscheidung geführt, lieber noch ein Jahr im schulischen System dranzuhängen als einen Ausbildungsplatz zu suchen.
Appell zur Berufsorientierung
„Die Mehrheit der Betriebe sehen den fehlenden Zugang zu Bewerbern und die erschwerte Berufsorientierung als aktuell größte Herausforderungen bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen“, sagte Maike Bielfeldt, Hauptgeschäftsführerin der IHK Hannover, bereits im März. Gemeinsam mit Kultusminister Grant Hendrik Tonne und Johannes Pfeiffer, Chef der Arbeitsagentur Niedersachsen-Bremen, appellierte sie im Frühjahr, die verschiedenen Informationswege zu nutzen. Beispielsweise haben in Niedersachsen Kammern, Verbände, Gewerkschaften und die Bundesagentur für Arbeit, koordiniert vom Kultusministerium, ihre Angebote zur Berufsausbildung auf dem Portal www.buendnis-duale-berufsausbildung.de gebündelt. Die niedersächsischen Industrie- und Handelskammern sind unter dem Slogan „Moin Future“ mit einer Social-Media- Kampagne unterwegs, die IHK Hannover engagiert sich in weiteren Aktionen. Es gibt digitale Speed-Datings, Online-Berufsmessen und,nicht zu vergessen, die bereits seit Jahren etablierten Lehrstellenbörsen im Internet. Und die IdeenExpo als bundesweit größte Plattform zur Berufsorientierung fiel dieses Jahr nicht aus, sondern fand Mitte Juli im Internet statt.
Flankiert werden diese Anstrengungen auch noch in anderer Weise: Mit einem „Aktionsplan Ausbildung“ für Niedersachsen sichert die Landesregierung bestehende Ausbildungsplätze und fördert neue Ausbildungsverträge. Dafür wurden aus dem Landeshaushalt 18 Mio. Euro bereitgestellt, von denen im Juli noch etwa die Hälfte zur Verfügung stand.
Die Pandemie, so scheint es, hat auch den Blick auf die Bedeutung der beruflichen Bildung geschärft. Genug? Joachim Maiß sagte im Juni, noch während seiner Zeit als Leiter der Multimedia-BBS in Hannover, worum es in letzter Konsequenz geht: Gleichberechtigung. Die akademische Bildung dürfe nicht länger als Königsweg und die berufliche Ausbildung dagegen allenfalls als zweiter Königsweg gesehen werden, so Maiß bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit IHK-Chefin Maike Bielfeldt. Ziel war es, den Anliegen der Berufsschulen und damit der beruflichen Bildung insgesamt mehr Nachdruck zu geben. Die IHK Niedersachsen und der niedersächsische Verband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen (VLWN) haben dazu ein gemeinsames Papier vorgelegt mit dem Ziel, die 132 Berufsschulen Niedersachsens als Säule der beruflichen Bildung zukunftsfit zu machen. Da hat sich einiges aufgestaut: „Viele Themen sind seit Jahren bekannt, werden aber nicht angefasst“, so Maiß, der auch VLWN-Landesvorsitzender ist.
Zeitgemäße I T-Ausstattung?
Bildungsangebote müssten in Zukunft noch moderner, flexibler und digitaler werden, heißt es im gemeinsamen Papier der IHKN und des Lehrkräfteverbandes mit Blick auf die im Schulsystem insgesamt während der Pandemie deutlich gewordenen Probleme. Und weiter: „Dass die Schulen über eine zeitgemäße IT-Ausstattung und Netzanbindung verfügen, wird hier als selbstverständlich vorausgesetzt.“ Ein etwas überraschender Satz, den man auch falsch lesen könnte, denn selbstverständlich ist eine ausreichende IT-Infrastruktur an den niedersächsischen Berufsschulen zurzeit noch keineswegs. Joachim Maiß forderte unter anderem die Möglichkeit, in den Schulen IT-Administratoren einstellen zu können. Die Wirklichkeit beschrieb er dagegen so, dass heute Lehrkräfte „unter den Tischen liegen, um sich um die Kabel zu kümmern.“
Er wies auch darauf hin, dass die Anforderungen an die Informationstechnik in den Berufsschulen sogar eher noch höher seien als in den allgemein bildenden Schulen, weil sie sich auf Augenhöhe mit den Unternehmen bewegen müssten. Umso mehr: Die Betreuung der IT-Infrastruktur dürfe keine Nebenaufgabe für Lehrerinnen und Lehrer sein, pflichtete IHKN-Hauptgeschäftsführerin Bielfeldt bei.
Wie sich die Berufsschulen im Hintertreffen sehen, wird wohl besonders deutlich bei der Unterrichtsversorgung. Bielfeldt nannte das Minus von zehn Prozent nicht akzeptabel, Maiß wies auf die deutlich höhere Quote bei den Gymnasien hin –
Stichwort Gleichberechtigung. In ihrem gemeinsamen Papier nennen IHKN und VLWN gleich eine ganze Reihe von Vorschlägen, um hier zu einer Entlastung zu kommen. Beispielsweise könnten Quer- und Seiteneinsteiger, Studenten oder auch aus dem Ruhestand reaktivierte Lehrkräfte helfen. Insbesondere sei mehr Flexibilität nötig: Als Schulleiter, so Joachim Maiß, habe er zuletzt eine hoch qualifizierte Fachfrau nur deshalb nicht als Lehrerin einstellen können, weil ein einziges formales Kriterium nicht erfüllt gewesen sei.
In diesen Tagen beginnt zum zweiten Mal ein Ausbildungsjahr unter den Bedingungen der Pandemie. Die bislang veröffentlichten Zahlen sind noch sehr in Bewegung. Nach dem August folgt Anfang September der zweite große Starttermin für die Lehre 2021. Und auch danach ist noch einiges möglich: Nachvermittlungsaktionen können für einen Start in die Ausbildung bis Ende des Jahres sorgen. Wobei das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung skeptisch war, was die Ergebnisse der Nachvermittlung im vergangenen Jahr betrifft.
Wenn dann die endgültigen Zahlen für das Ausbildungsjahr 2021 vorliegen, werden vielleicht die neuen Ausbildungsverträge in der Gastronomie besonders im Blick stehen, angesichts des derzeit so spürbaren
Fachkräftemangels. Dabei ist die Branche bemüht, eine Empfehlung des Kompetenzzentrums umzusetzen: als Ausbildungsbetrieb attraktiv sein. Der Hotel- und Gaststättenverband in der Region Hannover hat inzwischen fünf Unternehmen als Leuchttürme in der Ausbildung ausgezeichnet.
Das neue Ausbildungsjahr beginnt: Wie Unternehmen aus der IHK-Region Hannover ihre neuen Azubis gegrüßen, lesen Sie hier.