Sie können getrost sagen, wenn Sie dies lesen: Es gibt Wichtigeres, gerade heute. Und die Antwort heißt: Ja, stimmt. Aber man greift doch, gerade heute, nach jedem Strohhalm, an dem man sich festhalten kann, um ein wenig von der Pandemie wegzukommen. Zum Beispiel, wenn sich ein lange bestehendes Rätsel löst.
Dieses Rätsel führt in die Wirtschaftsgeschichte Hannovers, nach Linden. Dort lag der erste nicht-militärische Flugplatz Hannovers, auch wenn dort während des Erstens Weltkriegs vor allem Kampfflugzeuge gebaut wurden. Aber immer wieder tauchten Hinweise auf, dass die Hannoversche Waggonfabrik, kurz Hawa, auch Passagierflieger baute. Sogar Werbeanzeigen findet man noch. Aber kein Flugzeug, dass zu den kryptischen Typenbezeichnungen Han C-VF 6 oder Han CL-F 10 passt.
Doch es gab sie! Tatsächlich veröffentlichten die Autoren Alexander Kauther und Paul Wirtz bereits vor zehn Jahren Fotos in einer Lebensbeschreiung der Luftfahrtpioniers, Motorenentwicklers – und Hannoveraners – Hermann Dorner. Damit sollte 1919 wohl von Linden aus Linienverkehr nach Göttingen, Travemünde und Bremen geflogen werden. Und die CL-F 10 war offenbar tatsächlich ein schnittiger Dreidecker für vier Passagiere. Zumindest mit dieser Zahl war Dorner ebenbürtig der Junkers-Entwicklung aus dem gleichen Jahr, die gerne als Urahn der modernen Verkehrsfliegerei bezeichnet wird.
Dorner aber betreute dafür in Linden den Bau des Urahns der modernen Segelfliegerei. Und hatte großen Anteil am ersten Flug mit einem Packard-Dieselmotor. Und entwickelte bereits in der ersten Hälfte der 20er Jahre einen Diesel-Pkw. Ganz abgesehen davon, dass die Hawa zur gleichen Zeit auch ein Elektroauto auf den Markt brachte. Wie innovativ Hermann Dorner dachte, lässt sich vielleicht am besten an einem Entwurf ablesen, der unter dem Namen Floh wie die Karikatur eines Flugzeugs aussah. Mal ganz abgesehen davon, dass der Ingenieur, der seine frühe Kindheit im Wittenberger Lutherhaus verbrachte, bereits 1909 in Berlin in einem Wettbewerb unter anderem gegen Motorflug-Ikone Orville Wright und Ärmelkanal-Bezwinger Louis Bleriot antrat.
Ja, es gibt wichtigeres heute als das. Aber dieses Rätsel, dank der Veröffentlichung von Kauther und Wirtz, jetzt gelöst zu haben, macht Freude. Und das ist wichtig, gerade heute.
Übrigens: Was das alles mit Hannovers Kestnergesellschaft zu tun hat, lesen in der April-Ausgabe der Niedersächsischen Wirtschaft. pm
Ursprünglich als Wirtschaftspolitisches Streiflicht, später in einer eigenen Rubrik „Streiflichter“: Glossen begleiten die Niedersächsische Wirtschaft von Anfang an und hatten schon in Vorgänger-Publikationen ihren Platz. An dieser Stelle finden Sie jeden Freitag eine Glosse in dieser Tradition.