Der Continental-Konzern hat seine Geschichte während der NS-Zeit umfassend aufgearbeitet. Bei der Vorstellung der Studie in Hannover machten Vorstandschef Elmar Degenhart und Personalvorständin Ariane Reinhart deutlich, dass die Lehren aus der Verstrickung mit dem Regime auch heute wesentlich sind für das Selbstverständnis von Führungskräften ebenso wie für die Unternehmenskultur.
„Wegen Continental haben damals viele Menschen leiden und auch sterben müssen.“ Worte von Vorstandschef Elmar Degenhart unter dem Eindruck der Studie zur Geschichte des Konzerns während der NS-Zeit. Bedrückend und eine Mahnung nannte er das, was der Münchener Historiker Professor Paul Erker zu Tage gefördert hatte. Immer unfassbarer, so Degenhart, sei für ihn die zunehmende Verstrickung des Unternehmens mit dem Regime gewesen. Menschenunwürdig die Unterbringungen von Zwangsarbeitern, zuletzt auch aus Konzentrationslagern.
Aber zugleich formulierte er angesichts des „dunkelsten Kapitels der Unternehmensgeschichte“ einen Auftrag an Führungskräfte in Wirtschaft, gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen – und zwar zunächst „durch das, was wir unseren Belegschaften vorgeben, was wir vorleben – und welche Verhaltensweisen wir nicht akzeptieren.“ Darüber hinaus sprach er auch von einer politischen Verantwortung von Unternehmerinnen und Unternehmern.
Blick in die Vergangenheit macht aktuelle Aufgaben deutlich
Berührend und erschütternd nannte Ariane Reinhart, im Continental-Vorstand für Personal zuständig, die Ergebnisse der Studie. Ebenso wie Elmar Degenhart betonte sie aber deren aktuelle Bedeutung: Die rasche Durchdringung eines eigentlich von Internationalität und Offenheit geprägten Unternehmens mit der NS-Ideologie in den 30er Jahren zeige, wie fragil Unternehmenskulturen seien. Also müsse man auch heute genau hinsehen: Die Unternehmenskultur bei Continental sei durch Vielfalt geprägt – problematische Entwicklungen gebe es derzeit nicht, so Reinhart.
Bislang unbekanntes Material aus dem Continental-Archiv
Die von Paul Erker in den vergangenen rund fünf Jahren betreute Studie fasst auf 800 Seiten die Continental-Vergangenheit während des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges zusammen. Dabei griff er auf bislang unbekanntes Material zurück, das unter anderem durch die Wiederbelebung des Unternehmensarchivs erschlossen wurde. Auch von Continental übernommene Unternehmen wie Teves, Semperit, VDO oder Phoenix wurden untersucht. Ein Ergebnis der Studie ist dabei die unterschiedliche Entwicklung von Familienunternehmen und Aktiengesellschaften bei der Anpassung an den Nationalsozialismus. Solche von der Rechtsform abhängigen Unterschiede hatte beispielsweise auch die Studie zur NS-Vergangenheit der hannoverschen VGH-Versicherungen ergeben mit Besonderheiten bei Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit. Die VGH-Studie stammt aus dem Jahr 2012. Andere Unternehmen haben ihre NS-Vergangenheit noch eher aufarbeiten lassen, VW etwa bereits 1996. Warum erst jetzt Continental? Das im Vorfeld des 150-jährigen Bestehens 2021 anzugehen, sei eine Entscheidung des jetzigen Vorstandes gewesen und reiche im Ursprung bis 2011 zurück, so Elmar Degenhart. Man wolle sich jetzt der Verantwortung stellen.
Als Mahnung sieht der Continental-Chef auch das zum Teil zwiespältige Verhalten von Unternehmen der Gruppe im beginnenden Nationalsozialismus. Wenn man auf der einen Seite dem Regime distanziert gegenüberstand – in manchen Fällen konnten auch Führungskräfte zeitweise geschützt werden -, so wurde die Zurückhaltung aufgegeben, wenn es Unternehmenszielen diente.
Rund 10.000 Zwangsarbeiter in den Continental-Werken
Der Einsatz von rund 10.000 Zwangsarbeitern in den Kriegsjahren bei Continental nannte Degenhart „nicht zu rechtfertigen“, unabhängig von jedem Druck angesichts staatlicher Produktionsvorgaben. Und er formulierte daraus auch eine aktuelle Vorgabe: Auch hervorragende Ergebnisse von Führungskräften können ein damit verbundenes Fehlverhalten nicht legitimieren. Die heute zu Continental gehörenden Unternehmen lieferten zentrale Rüstungsgüter, von Flugzeugreifen über schusssichere Tanks und Hydraulikschläuche oder Teile für Bremsen bis zu Steuerelementen für die V1. „Continental war ein wichtiger Bestandteil von Hitlers Kriegsmaschinerie“, so Degenhart.
In der Studie werden unter anderem die Arbeitsbedingungen von Zwangsarbeitern in der damals ohnehin besonders strapaziösen Gummiindustrie. Zum Beispiel waren die Menschen, so schildert es die Studie, an schwarzen oder weißen Gesichtern erkennbar: Sie arbeiteten entweder mit Ruß oder mit Talk und hatten keine Möglichkeit, sich zu wachsen. Historiker Paul Erker zitierte einen Zeitzeugen, der von „Rußsklaven“ und „Talkkommandos“ sprach. Die Studie dokumentiert auch die Mitbeteiligung von Continental an Schuhteststrecken, auf denen KZ-Häftlinge bis zur Entkräftung und Tod ausgebeutet und misshandelt wurden.
Das Unternehmen hat aber Kontakt zu Nachkommen aufgenommen, die das auch als Wertschätzung begriffen hätten, wie Ariane Reinhart deutlich machte. Entschädigungen wurden über die im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ geleistet, in die Continental einen zweistelligen Millionenbetrag zahlte. Auch mit der Studie wolle das Unternehmen aber keinen Schlussstrich ziehen, erklärte Vorstandschef Degenhart.
Siegmund-Seligmann-Stipendium angekündigt
Die Lehren aus der Geschichte seinen für die heutige Unternehmenskultur heute wichtig, so Degenhart weiter. Die Ergebnisse der Studie beispielsweise wurden noch am Tag der Veröffentlichung den Continental-Mitarbeiterinnen und -Mitarberbeitern in einem Webcast nahegebracht. Bereits 2016, so Ariane Reinhart, gehört die Beschäftigung mit der Zwangsarbeiter-Gedenkstätte im hannoverschen Stadtteil Ahlem zur Ausbildung bei Continental. Sie kündigte darüber außerdem die Errichtung einer Gedenktafel mit den Namen der Zwangsarbeiter an. Außerdem soll es ein Stipendium geben, das für die Erforschung von Unternehmensgeschichte während der NS-Zeit vergeben werde und das den Namen Siegmund Seligmanns, des ersten Generaldirektors der Continental, trägt. Schließlich soll das unter der Leitung von Nils Fehlhaber wiederbelebte Unternehmensarchiv vom kommenden Jahr an der Wissenschaft zugänglich gemacht werden: Gewollt sei höchste Transparenz.
Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit könne er nur jedem Unternehmen empfehlen, sagte Continental-Chef Elmar Degenhart. Unter dem Eindruck der Studie war er für sich ganz persönlich diese Frage auf: „Wenn ich in der Situation gewesen wäre, wie hätte ich mich verhalten?“ Allein die Frage zu stellen, machte Degenhart deutlich, schärfe den Blick, trage zur Sensibilisierung gegenüber akutellen Entwicklungen und helfe, heutiges Fehlverhalten zu erkennen und nicht zu tolerieren.
+++ In der usprünglichen Fassung des Berichts hieß es, dass vermutlich heute keine bei Continental eingesetzten Zwangsarbeiter oder Zwangsarbeiterinnen mehr leben. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung hat jedoch im Zuge der Berichterstattung über die Continental-Studie einen heute in Israel leben ehemaligen Zwangsarbeiter interviewt.
Die Studie wird Anfang September als Buch veröffentlicht.
Ein Statement von Personalvorständin Dr. Ariane Reinhart finden Sie auf der Continental-Website.
Die reiche Geschichte der Continental hat auch andere Facetten – zum Beispiel die eines später weltberühmten Schriftstellers in der Werbeabteilung.