Das Jubiläumsjahr geht zu Ende. 150 Jahre liegen hinter einer Marke, die vielleicht wie keine sonst für Sicherheit steht. TÜV Nord – dahinter steht heute ein Unternehmen, das nicht nur prüft, sondern schon jetzt an der Technik von morgen mitwirkt. Mit einem Auftrag, der in der vierten industriellen Revolution noch weiter gefasst ist als in der ersten.
Wären die Männer, die vor 150 Jahren den heutigen TÜV Nord aus der Taufe hoben, überrascht, wenn sie wüssten, womit sich ihre Dampfkessel-Überwachungsvereine inzwischen beschäftigen? Sicher stünden sie als Wortführer der Industrie 1.0 staunend vor dem, was die vierte industrielle Revolution an digitalen Möglichkeiten zu bieten hat. Aber überrascht? Eher nicht, denn unter den Industrie-Revolutionären von damals findet man genügend Technikbegeisterte und Fortschrittsjünger, die vieles, vielleicht alles für mach- und lösbar hielten. Schon gar das Problem explodierender Dampfkessel.
Dass aber sein hannoverscher Überwachungs-Verein heute als Unternehmen mehr als 10 000 Menschen in über 100 Ländern einen Job bietet und gut 1,2 Mrd. Euro umsetzt, hätte sich Albert Knoevenagel nicht träumen lassen. Der Fabrikant, Tüftler und Dampfmaschinenkonstrukteur gehörte zu denen, die 1873 und damit vier Jahre nach dem norddeutschen Erstling in Hamburg auch in der preußischen Provinz-Metropole Hannover einen Verein zur Dampfkessel-Kontrolle gründeten. Knoevenagel sollte über 30 Jahre an der Spitze des Vereins stehen, dessen Gründung von der noch jungen Handelskammer in Hannover freudig begrüßt wurde: Kesselexplosionen waren seit Jahren ein Thema, da musste man ran. Gerade erst hatten Handelskammer und Gewerbeverein in ihrem gemeinsamen Wochenblatt, dem frühesten Vorgänger dieser Zeitschrift, einen nahezu kostenlosen zehnwöchigen Kurs für Dampfkesselheizer avisiert. Den zweiten Lehrgang dieser Art im hannoverschen Polytechnikum hielt bereits der Ingenieur des Dampfkessel-Überwachungsvereins, Ludwig Grabau.
Der hatte während der ersten Untersuchungen bei einigen der gut 70 hannoverschen Vereinsmitglieder und ihren mehr als 150 Kesseln schlecht ausgebildete Kesselwärter als eine der Ursachen ausgemacht, außerdem schlechte Konstruktionen in schlechtem Zustand bei schlechter Wartung: Gut zu tun also, um Menschen vor den Gefahren der Technik zu schützen. Dieser Gedanke zieht sich durch die Geschichte der Technischen Überwachungsvereine, die übrigens seit 1938 so heißen und damit Dampfkessel-D und Abkürzung DÜV hinter sich ließen.
Die TÜV Nord AG, entstanden in einer Geschichte von Fusionen und der Übertragung des operativen Geschäfts von Vereinen auf Unternehmen, gehört heute zu den drei großen TÜV-Organisationen in Deutschland. Aktionäre des hannoverschen Prüfunternehmens sind der TÜV Nord e.V. in Hamburg, der RWTÜV in Essen und der TÜV Hannover/Sachsen-Anhalt. Dieses Nebeneinander von Vereinen und Unternehmen, außerdem Tochtergesellschaften und ein Verband, die sich alle die Traditionsmarke mit den drei Buchstaben teilen, machen die TÜV-Strukturen leicht unübersichtlich. Zumal die einzelnen Unternehmen längst auf liberalisierten Märkten untereinander und mit anderen Prüfunternehmen konkurrieren. Prüf-Monopole oder Gebietsabgrenzungen wurden nach und nach abgeschafft. Dabei hatten die TÜV-Chefs noch in den 70er Jahren jeden Gedanken an Wettbewerb und Gewinnstreben weggewischt, vielmehr laut und vernehmlich auf den staatlichen Prüfauftrag gepocht.
Der TÜV Nord holte im vergangenen Jahr 45 Prozent seines Umsatzes aus Prüfdienstleistungen für die Industrie – also dort, wo er herkommt. Mit rund 32 Prozent liegt Mobilität auf Rang zwei: Gutachten, Führerscheinprüfung und, natürlich, die Hauptuntersuchung. Zu Zeiten des Monopols bei der seit 1951 geltenden Pflicht zur Auto-Vorführung war der Anteil auch schon höher und machte bis zur Hälfte der TÜV-Einnahmen aus. Die restlichen gut 20 Prozent des Umsatzes erzielt das das hannoversche Unternehmen heute in vier kleineren Bereichen: Rohstoffe, Bildung, Aerospace, also Luft- und Raumfahrt, und IT. Dieser letzte Bereich spiegelt sich in der 1995 gegründeten TÜViT wider, Spezialist in der TÜV-Nord-Group für die Sicherheitsprüfung von Hard- und Software. Das führt aber leicht in die Irre.
Denn eigentlich gibt es im hannoverschen Prüf-Konzern keinen Winkel mehr, der nicht von der Digitalisierung erfasst wäre. Und das begann, sagt Dr. Dirk Stenkamp, seit 2017 Vorstandschef des TÜV Nord, eigentlich schon in der Ära Industrie 3.0 – also mit dem Vordringen von Computern und Robotik. Der IT-Anteil in der vom TÜV geprüften Technik wuchs und wächst weiter, und die Prüfer sind längst mit digitalen Instrumenten unterwegs, erfassen Daten, wo früher nur gemessen wurde, und bewegen sich in virtueller und digital unterstützter Realität – auf gut Englisch Virtual oder Augmented Reality. In diesem Frühjahr stellte der TÜV zum Beispiel das so genannte Live Expert System vor: Ein Gutachter muss nicht mehr vor Ort sein, sondern kann online per Video eine Beurteilung abgeben – und das gerichtsfest. Außerdem öffnet die Digitalisierung neue Arbeitsfelder. Wem gehören die Daten, die im zunehmend digitalisierten Verkehr anfallen? Da entsteht jetzt schon jede Menge: Navigation, Fahrerassistenz. Und was erst in einer 5G-vernetzten Infrastruktur mit autonomem oder teilautonomem Fahren? In der noch offenen Diskussion bietet sich die TÜV-Organisation als Verwalter dieser Daten an.
Der TÜV ist ursprünglich angetreten, um den Motor der ersten industriellen Revolution, die Dampfmaschine, sicherer zu machen. Heute in der viel beschworenen vierten ist die Digitalisierung treibende Kraft. Um die sicher zu machen, ist allein schon der Prüfauftrag des TÜV weiter geworden, sagt Dirk Stenkamp: Auch die Technik sei heute vor dem Menschen zu schützen, nicht mehr nur umgekehrt – vor Manipulation, vor Hackern, vor Datendiebstahl und Cyberkriminalität. Aber selbst das ist verglichen mit dem, was den TÜV-Nord-Chef im Jubiläumsjahr des Unternehmen umtreibt, lediglich ein Teilaspekt: Wie prüft man digital gesteuerte Technik, deren Software regelmäßig aktualisiert wird – und die zum Beispiel bei Autos das Fahrverhalten grundlegend ändern kann. Und was ist mit lernenden Systemen? Insbesondere, so Stenkamp, mit Künstlicher Intelligenz höherer Ordnung, bei der ein System eigene Regeln entwickelt und damit sein, wenn man so will, Verhalten selbstständig anpasst? Als Prüforganisation müsse man damit Schritt halten, erklärte der TÜV-Nord-Chef: „Wir brauchen künftig dynamische Verfahren, die 24 Stunden und sieben Tage die Woche verlässliche Informationen über die Funktionalität und Sicherheit des Systems liefern“, sagte Stenkamp vor wenigen Wochen bei einem Kongress in Berlin. Schon bei der Gründung der Überwachungsvereine gab es Diskussionen über die Zugangsmöglichkeiten für die Prüfer: Wie viel Druck heute auf dem Kessel ist, lässt sich an einer weiteren Forderung ablesen: Künstliche Intelligenz sagt Stenkamp, lasse sich prüfen – aber dafür sei der Zugang zum Allerheiligsten der Software, den Quellcodes der Systeme, unerlässlich. Stenkamp stellt sich hinter die Forderung nach einem Algorithmen-TÜV. Und wenn er davon spricht, sieht man ihm an, wieviel Spaß er an dieser neuen Diskussion um die Sicherheit von Technik hat und wie er sich mit dem gerade 150 Jahre alt gewordenen TÜV dabei fühlt: Wie ein Fisch im Wasser.