Von jedem etwas: Zum zweijährigen Bestehen organisierte das APITs Lab eine Anwenderkonferenz. Die entpuppte sich als Streifzug durch die vielfältigen Möglichkeiten interaktiver Technologien für Unternehmen.
Die Echemer Kuhbrille: Hört sich zunächst mal nach einem Partygag an. Das wird nicht unbedingt anders, wenn man hört, worum es geht: Eine Virtual-Reality-Brille, durch die man sieht wie eine Kuh. Wenn aber Benito Weise vom Landwirtschaftlichen Bildungszentrum Echem in seinem trockenen Vortragsstil die Brille vorstellt, bleibt kein Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Projekts. Das, was man über das Sehen – und Hören – von Rindern weiß, ist in die Brille samt Akustikmodul eingeflossen: Mit der Brille taucht man in die Sinneswahrnehmung des Rindes ein – und kann so feststellen oder erahnen, wo Haltungsbedingungen falsch sind. Gut für Azubis in der Landwirtschaft, aber auch, um Technik zu verbessern. Zum Beispiel, wenn in einem Melkroboter ein Ventil Geräusche in einem Frequenzbereich verursacht, der für Menschen unhörbar ist, bei Kühen aber einen Fluchtreflex auslöst. Oder wenn eingeschränkte Sicht die Tiere stresst.
Die Brille ist wohl die ungewöhnlichste Entwicklung, die bei der ersten Anwenderkonferenz des APITs Lab in Hannover im Oktober vorgestellt wurde. Und sie machte neben der reinen Technik noch etwas ganz Wesentliches deutlich: Digitalisierung braucht Fantasie, um aus technischen Möglichkeiten Anwendungen zu machen. Denn darum geht es dem APITs Lab, einer Einrichtung der Nordmedia und damit kurz gesagt der Medienförderung des Landes. APITs, das steht als Abkürzung für Applied Interactive Technologies, angewandte interaktive Technologien. Vieles davon wurde für Computerspiele entwickelt. Und nur zur Erinnerung: Die Spieleszene war schon immer mit ihren Ansprüchen an Hardware-Leistungsfähigkeit und Darstellungsqualität ganz oben mit dabei. Und das APITs Lab soll seit zwei Jahren das, was für die Welt der Gamer entwickelt wurde, in den Mittelstand tragen. Zum Geburtstag gab‘s die Anwenderkonferenz – und, passend zum Thema, Wirtschaftsminister Dr. Bernd Althusmann gratulierte virtuell per Videoeinspielung.
Bei den interaktiven Technologien kann man von einer Art klassischem Vierklang sprechen: Augmented Reality – digital unterstützte Wahrnehmung der Realität, etwa durch Einblendung zusätzlicher Informationen. Die Kuhbrille gehört in gewisser Weise dazu. Dann vor allem Virtual Reality, kurz VR: Vielleicht so etwas wie die Königsdisziplin. Hier werden Umgebungen vollständig digital erzeugt. Setzt man die VR-Brille auf, taucht man in diese künstliche Umgebung ein. Immersion heißt das – der menschliche Verstand lässt sich nach wenigen Sekunden überlisten. Zum dritten Serious Games, ernsthafte Spiele: Die haben einen erzieherischen Anspruch, zumindest soll man mit ihnen etwas lernen. Und schließlich Gamification: Dahinter stehen Belohnungsmechanismen wie in Computerspiele üblich.
Spieletechnologie im Marketing
Für alles hatten Tim Mittelstaedt und Anna Weisenberger, die beiden hinter dem APITs Lab, Beispiele aus der als äußerst rege geltenden hannoverschen und niedersächsischen Entwicklerszene auf die Konferenz geholt. Etwa die BitPioneers aus Hannover: Für ein Pharmaunternehmen haben sie ein Spiel entwickelt, mit dem man über einen Controller ein Krebsmedikament durch eine Blutbahn steuert, roten Blutkörperchen ausweichen und schließlich das Medikament an den Rezeptor andocken muss. Wahrlich kein leichtes Thema, aber gedacht für eine Umgebung, die damit umgehen kann: So etwas wird auf Medizin-Messen eingesetzt – Spieletechnologie im Marketing
Bei einem solchen Spiel geht es in gewisser Weise auch ums Lernen: Bei allen, die ein Medikament erfolgreich zum Ziel steuern und die vorab den Namen des Medikaments bei einer Quizfrage anklicken mussten müssen, um einen Zeitbonus zu bekommen, dürfte sich der Messekontakt tiefer in Gedächtnis eingegraben haben als ohne die spielerische Unterstützung – vielleicht noch nicht ganz ein serious game.
Ein im wahrsten Sinn sehr ernstes Spiel allerdings haben die Macher von Vollkorn Games entwickelt: Eine App für Demenzkranke und ihre Angehörigen oder Pflegenden, ein Art Memory, das sich aber mit persönlichen Bildern gestalten lässt und so Anregung und Gesprächsstoff liefert. Die Grenze vom Spielen zum Lernen überschreitet dann Gerrit Posselt, Professor an der TU Braunschweig, der ein Unternehmensplanspiel entwickelt hat – für bis zu 64 Teilnehmer, mit virtuellen Kern – also einer Spiele-Engine – und realen Karten und Spielmaterial. Auch er präsentierte sein Entwicklung mit dem Namen „Plan A – Das Business Game zur Arbeitswelt der Zukunft“, bei der APITs-Lab-Konferenz im Oktober in Hannover.
Aber damit sind wir mitten in einem Kernbereich heutiger Anwendung interaktiver Technologien: Lernen und ausbilden, qualifizieren und weiterbilden. Rhetorik vor einem virtuellen Publikum trainieren? In Osnabrück haben drei Gründer aus dem Umfeld der Hochschule den Rhetoriktrainer VR entwickelt: Reden lernen vor einem virtuellen, steuerbaren Publikum. In Emden geht es derzeit gleich um die Vision eines virtuellen Trainingcenters für Windanlagen auf See. Den grundlegenden Workshop hat das APITs Lab organisiert und brachte das Emder Gründerinnenzentrum und die deutschlandweit sowie in China tätige Software-Schmiede Salt and Pepper zusammen. Die hat ihr VR-Hauptquartier in Osnabrück.
Trainieren für den Notfall
Um Übung für den echten Einsatz dreht sich das Forschungsprojekt Vitawin der Hochschule Hannover. In rein virtuellen Trainingsprogrammen können sich Notfallsanitäter auf das vorbereiten, was sie im Ernstfall tatsächlich erwartet: Sie sind per Brille – Stichwort Immersion – so drin in der virtuellen Umgebungen, dass sie tatsächlich Stress entwickeln; sie müssen die richtigen Entscheidungen treffen, werden von Hintergrundgeräuschen abgelenkt.
Das wird jetzt noch weiterentwickelt, wenn eine High-Tech-Puppe ins Spiel kommt, damit auch die rein virtuelle Wahrnehmung durch das Fühlen ergänzt wird. Mixed Reality, oder so Professor Jonas Schild von der Hochschule Hannover: Augmented Virtuality. Ist nicht so neu eigentlich, spätestens seit für die Steuerung von Flugzeugsimulationen Controller entwickelt wurden, die wie Steuerknüppel aussehen. In einer Lern-Anwendung bei VW ist das eine Spritzpistole. Wo man im richtigen Leben echte Werkstücke, echte Farbe und echte Emissionen hätte, reicht nun die Simulation in der VR-Brille plus realer Spritzpistole in der Hand. Einer von vielen Vorteilen: Man kann auch virtuell messen, wie gleichmäßig die Farbe aufgetragen wurde. Das liefert eine Art Spielstand und bietet einen zusätzlichen Anreiz. Angehende Lackierer können ihre Ergebnisse vergleichen: Gamification. Aus Sicht von Malte Hedemann hat Virtual Reality weitere Vorteile. Ein ganz wichtiger: Training wird nicht zu einer lästigen Übung, im Gegenteil kommt nach einem Durchgang oft die Frage: „Kann ich nochmal?“ Etwas Besseres kann gar nicht passieren, macht Hedemann deutlich, der bei VW für „Digital Realities“ zuständig ist.
Und: Ein einmal entwickeltes Konzept lässt sich in einem großen Unternehmen wie VW vielfach einsetzen, es ist skalierbar. Zudem lassen sich wichtige Schlüsselpunkte im Lernstoff leicht hervorheben – „ein richtiges Geschenk“, meint Hedemann. Und digitales Lernen erlaubt eine Anpassung an die individuelle Lerngeschwindigkeit. Für VW ist Virtualisierung aber nicht isoliert in einzelnen Sparten: Der Konzern treibt das Thema mit der Wucht eines Weltkonzerns als Teil seiner Digitalisierungsstrategie voran. Das machte der VW-Experte in Hannover deutlich. In dichter Schlagzahl wurden in den letzten dreieinhalb Jahren Anwendungen vorgestellt, nicht nur für Ausbildung und Qualifizierung, sondern auch für die Mitarbeiterkommunikation, also für Workshops oder Besprechungen.
Aber was passiert mit den Kleinen, wenn ein Riese wie VW das Thema für sich entdeckt, auf Augenhöhe mit den großen IT-Konzernen? Wenn ein Thema, das im lange eher im Verborgenen blühte, jetzt so richtig in der Breite, in der Realität ankommt? Seit 2016 hat das Thema Fahrt aufgenommen, als die VR-Brille begann, massentauglich zu werden. Bleibt also für die innovativen Gründer, die kreativen Entwickler noch genug Platz? Ein Blick in die Glaskugel, findet Tim Mittelstaedt vom APITs Lab. Aber auch VW entwickele ja nicht alles selbst.
Vom weltgrößten Autohersteller ganz auf die andere Seite des Spektrums: Jens Thiemann, Geschäftsführer von VRTX Labs in Hannover, hat zusammen mit dem Tischler Mike Müller eine AR-Anwendung gebaut, mit der Kunden sich ein indviduell geplantes Möbelstück virtuell in die eigene Wohnung holen können – noch bevor überhaupt der erste Sägeschnitt gemacht wird. Solche Anwendungen sind also auch etwas für kleine und kleinste Unternehmen. Und das gilt umso mehr, wenn die Abläufe dort schon weitgehend digitalisiert sind, wie Müllers MM-Tischlerei in Großenwörden vom Entwurf bis zur Produktion.
Digitale Animationen in einer realen Umgebung sichtbar machen: Wer hier das Pokémon-Go-Prinzip wiedererkennt, liegt gar nicht so falsch. Das lässt sich auf viele andere Bereiche übertragen. Wo derzeit aber Grenzen liegen, machte Professor Philipp Lensing von der Hochschule Osnabrück deutlich. Lensing hat als Fachgebiet Computeranimation und Spieleprogrammierung. Sein Thema bei der APITs-Lab-Konferenz: Landschaftsplanung visualisieren. Was zunächst etwas spröde klingt, wird am Beispiel höchst lebendig. Zusammen mit der LandPlan OS
GmbH will Lensing es ermöglichen, sich über ein Tablet einen genauen Eindruck zu verschaffen, wie etwa eine geplante Windkraftanlage aus dem eigenen Garten heraus wirkt. Während es es jedoch bei Pokémon Go egal ist, wo exakt ein digitales Monster auftaucht, gilt das für Lensings Anwendung nicht. Hier ist Genauigkeit Pflicht, und Technik soll jeder kostenlos und ohne große Voraussetzungen anwenden können. Dazu mussten Hürden genommen werden, um die Windkraftanlage durch die Nutzung lediglich von GPS-Daten in der individuellen Betrachtung auch wirklich exakt zu positionieren. Noch nicht glücklich , so Lensing, sei man aber mit der Simulation des Sonnenstandes.
Es gibt also noch genug zu tun. Das gilt auch für die Brillen-Macher in Echem. Pferd oder Hund stehen auf der Liste. Oder, besonders aktuell, der Wolf. Anfragen aus dem arabischen Raum gab es auch schon. Aber, so Benito Weise, das Sehen des Kamels ist einfach nicht so gut erforscht wie das der Kuh.