Vielleicht ist es die Faszination Fliegerei, die für eine besondere Verbundenheit sorgt. Der Aviation Day Niedersachsen bringt Menschen zusammen, die an Ideen festgehalten und Träume verwirktlich haben, die viele für nicht machbar gehlaten hätten. Und dieser Geist ist ansteckend.

Zusehends zieht sich das Wetter zu. „Roll‘ Dein Flugauto weg.“ Das geht an Michael Werner. Manche sagen Michi. „Der Wilde“ sei er früher auch schon ab und zu genannt worden, sagt Werner, Gründer und Geschäftsführer von Fresh Breeze in Bissendorf. Man kennt sich beim Aviation Day. Und rückt zusammen: Ein Werkstor öffnet sich, Werner rangiert sein neues, straßentaugliches Motorschirm-Trike knapp vor einen Tragschrauber ins Trockene. Damit die gepolsterten Sitze nicht nass werden. Der Prototyp, den er Mitte September nach Hildesheim mitgebracht hat, ist eine Art dreirädriges Motorrad mit Druckpropeller am Heck, der Gleitschirm liegt gefaltet auf dem Gestänge über dem Pilotensitz. Ein Elektroantrieb soll dem Fluggerät 50 bis 100 Straßenkilometer ermöglichen.

Zeitweise Regen und eine frische Brise: Kein Hindernis für das Fliegen auch im offenen Tragschrauber.

Gerade noch rechtzeitig hat Werner das Dreirad untergestellt, kurz danach gießt es in Strömen. Jetzt sieht es so aus, als ob Stefan Muhle der einzige gewesen sein könnte, der heute zu einer erweiterten Platzrunde startete. Rechtzeitig vor dem Regenschauer war der für Digitalisierung zuständige Staatssekretär aus dem Wirtschafts- und Verkehrsministerium in der Luft. Verkehr, Wirtschaft, Digitalisierung – diese Themen fallen geradezu ineinander, wenn Professor Dr. Dirk Kügler das Projekt zur Fernüberwachung kleinerer Flughäfen vorstellt. Die Idee für den Remote Tower wurde 2002 geboren, erklärte er den rund 100 Teilnehmern beim Aviation Day. Seitdem wird das Projekt in Braunschweig beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) vorangetrieben, an ersten Standorten in Deutschland und Schweden eingesetzt. Moderne Kameratechnik und Kontrolle am Bildschirm weit weg – hört sich fast an wie der Videokeller der Fußball-Bundesliga. Aber das DLR-Projekt kann nicht nur schlechte Sichtbedingungen ausgleichen, sondern auch Kosten sparen. Insbesondere, wenn ein Fluglotse mehrere Flughäfen überwachen könnte. Daran wird derzeit gearbeitet, sagt Kügler.

Für seinen Kurzflug über dem Hildesheimer Flugplatz legt Stefan Muhle Hand an und hilft, den blau-weißen Tragschrauber Richtung Startbahn zu schieben. Geschlossen, zwei Sitze nebeneinander: Der Cavalon genannte Typ wurde 2011 vorgestellt, ist jüngstes Modell der AutoGyro GmbH. Muhle klettert auf den Sitz des Co-Piloten. Rund 140 PS sorgen für ruhiges Fliegen, selbst beim jetzt weiter auffrischenden Wind.

Zurück auf dem Boden.

Das findet auch der Staatssekretär, als er zurück auf dem Boden ist: Wie es war? Daumen hoch.

Im Nest der Tragschrauber

Der Cavalon kann aber auch anders. Das wird sich am Nachmittag noch zeigen. Und der offene weiße Tragschrauber, der kurz nach Muhles Flieger startete, turnt ziemlich unter der grauen Wolkendecke herum, stürzt sich immer wieder in enge Kurven: Die Rotorblätter werden eingeflogen, „ich zeig‘ Ihnen das mal“, sagt Mathias Österreich. Er war eben noch als Pilot mit dem Staatssekretär in der Luft, jetzt steht er nach ein paar schnellen Schritten in der Produktionshalle. Im Tragschrauber-Nest: Hier werden die Autogyros gebaut. Im Hintergrund leise Musik, kaum zu glauben und schlicht Zufall: „Danger Zone“ von Kenny Loggins, die Titelmusik des Flieger-Films Top Gun. Es geht aber weiter in den nächsten Hangar. Dort stehen fertige Flugzeuge, die Tore führen direkt auf den Flugplatz. Hoch aufs Arbeitsgerüst über einen gelben Tragschrauber, der Rotorkopf ist in Griffweite: Aluminiumstreifen und eine reiche Auswahl von Unterlegscheiben liefern Material, um die Rotoren in Zehntelmillimeterschritten so einzustellen, dass die Sollwerte erreicht werden. „Das kann eine Stunde, aber auch drei Tage dauern“, sagt Österreich.

Otmar Birkner.

In zwei Jahrzehnten hat sich die AutoGyro GmbH zum Weltmarktführer bei Tragschraubern gemausert. Die Technik kommt aus den 20er Jahren, aber Otmar Birknerhat sie aufgegriffen, verfeinert, man kann auch sagen: ihr neues Leben eingehaucht. Inzwischen wurden weltweit über 3000 Flieger verkauft. Birkner und Autogyro bilden ein wesentliches Zentrum der Luftfahrt-Szene in Niedersachen. Der Unternehmer ist auch Geschäftsführer der Betriebsgesellschaft des Hildesheimer Flugplatzes. Und er ist zum dritten Mal Gastgeber des Aviation Day.

Es kommt einiges zusammen …

Niedersachsen ist Autoland, natürlich. Und Luftfahrt? Sobald man zu überlegen beginnt, kommt doch einiges zusammen – das Airbus-Werk in Stade, die Aerotec-Standorte in Nordenham und Varel. Natürlich der Flughafen Hannover-Langenhagen und dort, neben vielen anderen Luftfahrtunternehmen, der große MTU-Standort für die Triebwerkswartung. Und TUI fly, die Fluggesellschaft im TUI-Konzern. Rund 260 Unternehmen mit 30?000 Beschäftigten soll die Branche in Niedersachsen umfassen. Hinzu kommt nicht nur der Deutsche Aero-Club als bundesweiter Luftsportverband mit Sitz in Braunschweig: Am Forschungsflughafen dort hat auch das Luftfahrtbundesamt seinen Sitz. Und das DLR verfügt über mehrere Standorte im Land, von denen neben Göttingen Braunschweig der größte ist. Ohne Zweifel ein guter Ort für Kontakte: Das sieht auch Matthias Cremer so, Geschäftsführer der Braunschweiger messWERK GmbH.

Kleines Messflugzeug Niedersachsens? Sieht jedenfalls ganz so aus.

Er ist mit dem, wie er sagt, kleinsten Forschungsflugzeug Niedersachsens nach Hildesheim geflogen, einer Remos GX, etwas größer als ein Ultraleicht-Flieger und vollgestopft mit Elektronik. Cremer bietet Messtechnik an, die von Herstellern bei der Erprobung neuer Flugzeuge genutzt wird. Aber Cremer hat auch schon die Windverhältnisse hinter Windparks erkundet oder fliegt Unfallverläufe nach. Er gehört damit zur General Aviation, zur Allgemeinen Luftfahrt. Und die steht beim Hildesheimer Treffen traditionell im Mittelpunkt. Organisiert wird die Veranstaltung von Niedersachsen Aviation: Diese Landesinitiative zur Förderung der Luft- und Raumfahrt geht zurück auf das Jahr 2007 und ist gerade erst verlängert worden. An der Spitze steht Stefan Schröder, Geschäftsführer der LNC LogisticNetwork Consultants GmbH. Der Aviation Day sei, so Schröder, in dieser Form das größte Regionaltreffen in Deutschland. Rund 20 Aussteller sind dabei, auch Unternehmen, die man nicht unbedingt erwartet. Die Metallgiesserei Wilhelm Funke aus Alfeld zum Beispiel, mit einem flugbegeisterten Geschäftsführer und jetzt Zulieferer mit Luftfahrtzertifizierung, zeigt ein Getriebegehäuse aus Magnesium. Direkt daneben die KRD Luftfahrttechnik aus Bardowick, die transparente Bauteile für die Flugzeuge herstellt.

Werkstoffe sind auch ein großes Thema bei Niedersachsen Aviation, aber gerade bei der Allgemeinen Luftfahrt zeigt sich die Landesinitiative äußerst selbstbewusst: Niedersachsen sei deutschlandweit bekannt als das Bundesland mit den weitreichendsten Kompetenzen im Bereich General Aviation. Zu den Aushängeschildern neben AutoGyro und Fresh Breeze gehört der Flywhale, ein im Oldenburgischen entwickeltes ultraleichten Amphibienflugzeug, das 2017 die Musterzulassung vom Deutschen Aero Club erhielt. Oder M+D in Friedeburg: Inzwischen in verschiedenen Geschäftsfeldern unterwegs, stand am Beginn der Flugzeugbau.

Strahltriebwerk mit Diesel

Heute wird in Ostfriesland in Kooperation mit dem südafrikanischen Hersteller Jonker Sailplanes ein Hochleistungssegelflugzeug gebaut, das über ein dieselbetriebenes Strahltriebwerk als Hilfsantrieb verfügt. Der elegante Segler schlägt eine Brücke in die Vergangenheit: Schließlich wurde das erste leistungsfähige Segelflugzeug in Niedersachsen gebaut, um 1921 in Hannover. Vier junge Leute haben den „Vampyr“ entwickelt, Kriegskameraden bestimmt, Freunde vielleicht.

Freundschaft ist offenbar eine gute Grundlage: In diesen Tagen wird Fresh Breeze 30 Jahre alt – Michael Werner wollte einfach fliegen, hat weltweit bislang rund 15.000 Fluggeräte verkauft, 2017 den Niedersächsischen Außenwirtschaftspreis erhalten.

Michael Werner im Prototyp seines neuen Gleitschirm-Trikes.

Luft-Straße: Hier wird vom Fliegen aufs Fahren umgestellt. Prototyp eben.

Seit den Anfängen kennt er AutoGyro-Gründer Birkner. Dessen meistverkaufter Flieger trägt die Vornamen von Freunden: MTOSport – Michael Werner, Thomas Kiggen, der heute eine der beiden Flugschulen in Hildesheim hat. Und Birkners Vorname.

Die nächste Generation baut Drohnen. Immo Weidner entwickelt zusammen mit zwei Freunden unbemannte Fluggeräte zur Überwachung von Trassen und Infrastruktur. Thyssen Gas ist interessiert, ein wichtiger Schritt. Machen, einfach machen, hoch fliegende Ideen: Dieser Geist scheint auch Stefan Muhle zu beflügeln. Der Staatssekretär spricht in der abschließenden Diskussionsrunde zum Thema Drohnen davon, Claims zu setzen und Dinge in Niedersachsen möglich zu machen, die woanders noch nicht möglich sind. Zwar gibt es in Europa jetzt eine rechtliche Grundlage für Drohnen, aber noch viele Hürden – und manche Nachbarländer sind bereits jetzt strategisch gut aufgestellt, erklärte in Hildesheim Jörg Dittrich vom Verband für unbemannte Luftfahrt (UAV).

Fliegen, endlich fliegen: Am frühen Nachmittag, nach der Drohnen-Diskussion, regnet es nicht. Jetzt ist die Chance auf einen Tragschrauber-Flug. Und der Cavalon zeigt, was in ihm steckt: Zum Beispiel lässt einer der Piloten sich am Himmel vom Wind zurückschieben. Eigentlich geht rückwärts fliegen nicht – die Rotoren sind nicht angetrieben, werden vom Fahrtwind bewegt. Anders als bei einem Helikopter, wie ihn Anja Ernst und Lucielle Gebhardt nach Hildesheim mitgebracht haben: Der CoAX 2D ist ein ultraleichter Hubschrauber mit zwei übereinander liegenden Rotoren.

Zwei Rotoren übereinander, also koaxial: der CoAX 2D aus dem Eichsfeld, bislang gut ein Dutzend mal gebaut.

Also braucht man keinen Rotor am Heck, das sorgt für mehr Effizienz und ist eigentlich seit Jahrzehnten die Spezialität eines großen russischen Herstellers. Ernst und Gebhardt vertreten in Hildesheim die edm aerotec GmbH. Die ist im Eichsfeld zu Hause, wenn auch nicht in Niedersachsen: Dass ausgerechnet die Luftfahrt-Community nicht an Landesgrenzen endet, hätte man sich denken können.

Noch immer legen sich die Tragschrauber am Himmel ins Zeug. „Jetzt hat er den Motor ausgestellt.“ Die Blicke der auf einen Mitflug Wartenden sind nach oben gerichtet. Tatsächlich, zwei Mal verstummt der Motor und wird dann wieder angeworfen: Der Tragschrauber bleibt stabil, natürlich. Währenddessen diskutiert Stefan Muhle noch immer in der AutoGyro-Eingangshalle: Vielleicht ist es die so leicht ansteckende Faszination Fliegerei, die ihn so lange beim Aviation Day gehalten hat.

Helikopter aus dem Eichsfeld: Anja Ernst (l.) und Lucielle Gebhardt von der edm aerotech GmbH stellten ihn in Hildesheim vor.

Diskutierten über Drohnen: Friedrich Wilhelm Bauer (VDI), Staatssekretär Stefan Muhle, Logistik-Experte Stefan Schröder (Niedersachsen Aviation), Jörg Dittrich (UAV-Verband), Gründer Immo Weidner und Andres Voss vom Drohnen-Startup USIC (v.l.).

Auf dem Weg zum Start: Staatssekretär Stefan Muhle (r.) und neben ihm Stefan Schröder, Direktor Niedersachsen Aviation …

Und zum Schluss Vorbilder . . .

 

… und ein Nachahmer.

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