Anfang dieses Jahres ist das Qualifizierungschancengesetz in Kraft getreten. Und in Berlin wird für diesen Herbst bereits das nächste Gesetz geplant, das Weiterbildung insbesondere bei Kurzarbeit fördern soll. Große Unternehmen rufen Qualifizierungsoffensiven für ihre Mitarbeiter aus, die Bundesregierung eine nationale Weiterbildungsstrategie. Die Rahmenbedingungen: Digitalisierung und grundlegende Herausforderungen insbesondere für die Autoindustrie, Demografie und Zuwanderung. In diesem Sommer war das Thema allgegenwärtig: Wie schafft man es, Wissen und Können der Menschen so zu entwickeln, dass es zu den neuen Anforderungen passt? „Höchste Zeit für Weiterbildung“, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im August. Zwei Bereiche stehen besonders im Blick: Anpassung an die digitale Transformation. Und Integration, untrennbar verbunden mit sprachlicher Förderung.
Lebenslanges Lernen – wie ruhig diese beiden Worte doch klangen. Oft kam noch ein drittes dazu: Bereitschaft. Das hatte dann etwas von Freiwilligkeit: Bereitschaft zu lebenslangem Lernen.
Davon ist aber im Sommer 2019 kaum noch die Rede. Die Welt ist im Wandel. Aus der Energie- wurde der Ruf nach einer Klimawende, eng verbunden damit die Forderung nach einer Verkehrswende. Unterlegt ist alles mit der Digitalisierung als Grundkonstante. Hinzu kommt die demografische Entwicklung, deren Auswirkungen durch die Zuwanderung nach heutigem Stand nicht ausgeglichen werden können.
Lebenslanges Lernen: Der Begriff ist Jahrzehnte alt. Und er ist ja nach wie vor richtig. Das, was man am Anfang eines Berufslebens an Wissen und Fähigkeiten erworben hat, reicht nicht bis zur Rente. Wer arbeitet heute noch so wie vor 20 Jahren? Lernen – oft allerdings nicht in eigens ausgewiesenen Weiterbildungsmaßnahmen, sondern am Arbeitsplatz – war unvermeidlich, und die Digitalisierung zu einem wesentlichen Teil dafür verantwortlich. Nur werden die Herausforderungen derzeit nicht eben kleiner. Die Digitazessen, die den eigenen Arbeitsplatz weit übersteigen, wird künftig noch mehr als jetzt schon zur Normalität. Tendenziell werden Routinetätigkeiten durch das Steuern, Kontrollieren und Aufrechterhalten von Prozessen ersetzt. Das Beispiel Automobilbau Immer wieder wird die in Deutschland so wichtige Autoindustrie herangezogen, um die Veränderungen zu skizzieren. Der Elektroantrieb ist nunmal in der Produktion nicht so aufwändig wie ein Verbrenner. Arbeiten, die den Automobilbau über Jahrzehnte geprägt haben, werden weniger. Dafür entstehen neue Aufgaben. Wie lassen sich Anforderungen und Mitarbeiterqualifikation angesichts dieses Wandels in Übereinstimmung bringen? Nicht umsonst ist die Qualifizierung der Mitarbeiter eines von drei Themen des im Frühjahr in Niedersachsen gestarteten Strategiedialogs Automobilwirtschaft. Der Technolisierung erfasst nahezu alle Branchen, sie verändert Geschäftsbeziehungen, Prozesse und damit ganze Geschäftsmodelle und im Ergebnis auch Arbeitsplätze: Systemübergreifende Prozesse, die auch Lieferanten und Kunden sowie andere Kooperationspartner einbinden, werden wichtiger. Im äußersten Fall entwickeln sich Geschäftsmodelle nicht nur rasend schnell weiter, sondern werden disruptiv schlicht über den Haufen geworden.
Heruntergebrochen auf den einzelnen Arbeitsplatz heißt das beispielsweise: Digitale Prozesse erleichtern die Kooperation und schaffen Effizienz, können auf der anderen Seite aber auch störanfällig sein. Eine erste Konsequenz dieser Entwicklung: Fragen der Datensicherheit und des Umgangs mit Daten sind längst nicht mehr nur für IT-Spezialisten relevant, sondern gehören in die Grundkompetenz jedes Berufstätigen. Darüber hinaus brauchen Unternehmen bereits jetzt mehr und mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht nur mit Daten umgehen, sondern sie nutzen können – Stichwörter sind Datenanalyse und Big Data.
Daraus ergeben sich als Konsequenz Anforderungen an die Kompetenzen der Mitarbeiter: Denken und Arbeiten in Prozessen, die den eigenen Arbeitsplatz weit übersteigen, wird künftig noch mehr als jetzt schon zur Normalität. Tendenziell werden Routinetätigkeiten durch das Steuern, Kontrollieren und Aufrechterhalten von Prozessen ersetzt.
Das Beispiel Automobilbau
Immer wieder wird die in Deutschland so wichtige Autoindustrie herangezogen, um die Veränderungen zu skizzieren. Der Elektroantrieb ist nunmal in der Produktion nicht so aufwändig wie ein Verbrenner. Arbeiten, die den Automobilbau über Jahrzehnte geprägt haben, werden weniger. Dafür entstehen neue Aufgaben. Wie lassen sich Anforderungen und Mitarbeiterqualifikation angesichts dieses Wandels in Übereinstimmung bringen? Nicht umsonst ist die Qualifizierung der Mitarbeiter eines von drei Themen des im Frühjahr in Niedersachsen gestarteten Strategiedialogs Automobilwirtschaft. Der Technologiekonzern Continental geht das Thema mit einer Qualifizierungsoffensive an. Bei VW spricht man von der Re-Qualifizierung der Mitarbeiter beim Übergang vom Autobauer zum stark elektrogetriebenen Mobilitätsanbieter.
Aber die Digitalisierung erfasst alle Branchen. Welche Dienstleistungen werden Banken den privaten Kunden demnächst anbieten, wenn die Geldversorgung beim Supermarkt stattfindet, der Zahlungsverkehr online erfolgt, Kredit-und Anlageentscheidungen ebenfalls digital ohne Kundenberater getroffen werden? Nicht anders bei den Versicherern: Wenn Prozesse digital abgewickelt werden – gerne wird das Dunkelverarbeitung genannt -, entstehen an anderer Stelle neue Aufgaben, heißt es zum Beispiel bei der VHV. Überflüssig zu sagen, dass man dafür Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur motivieren, sondern auch qualifizieren muss. Die Menschen im Unternehmen mitnehmen: Das hat sich nicht nur der hannoversche Versicherer auf die Fahnen geschrieben. Dort sind bislang unter dem Strich im Zuge der Digitalisierung mehr Jobs entstanden. Und noch ein Blick über die Landesgrenzen hinaus: Ebenfalls in diesem Sommer fiel in Baden-Württemberg der Startschuss für ein Modellprojekt, mit dem über Qualifizierungsverbünde die Weiterbildung in kleinen und mittleren Unternehmen
gefördert werden soll.
Lebenslanges Lernen: Wenn dieser Begriff jemals den Beiklang von Freiwilligkeit hatte, dann ist das im Sommer 2019 vorbei. Qualifizierung ist in der digitalen Transformation zur Notwendigkeit geworden.
Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte bereits das Bundesarbeitsministerium in einer umfassenden Untersuchung Verschiebungen auf breiter Front bei den Kompetenzbedarfen bis 2030 konstatiert und in einem Dossier aufgelistet, was in verschiedenen Berufsfeldern künftig gebraucht wird. „Digitalisierung und Automatisierung, aber auch das Entstehen neuer Tätigkeitsfelder werden im kommenden Jahrzehnt – und vermutlich darüber hinaus – kontinuierlich die Arbeitsnachfrage beeinflussen und verändern. Auch angebotsseitig werden die alternde Gesellschaft und mögliche Phasen erhöhter Zuwanderung für Veränderung sorgen“, heißt es in dem Bericht: Immer wieder die gleichen Schlüsselbegriffe. Die Untersuchung des Arbeitsministeriums unterscheidet zwei mögliche Entwicklungen: eine Basisszenario, das die absehbaren Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt. Und eine Entwicklung mit „beschleunigter Digitalisierung“, in der digitale Techniken intensiver genutzt werden. Auffällig dabei: Bei beschleunigter Digitalisierung steigt laut Studie die Zahl der Jobs für Menschen ohne qualifizierenden Berufsabschluss bis 2030 um knapp zwei Millionen. Verläuft die Entwicklung dagegen eher konventionell, sollen Arbeitsplätze für diese Gruppe in gleicher Größenordnung wegfallen. Erklärungen dafür zeichnen sich bereits heute ab: Digitale Unterstützungssysteme, die mit Begriffen wie augmented reality oder auch virtual reality eng verbunden sind, ermöglichen auch Beschäftigten auf Helferniveau oder Menschen mit Handicaps produktive inklusive Tätigkeiten. Das schafft Beschäftigung bei Menschen, die bisher schwer in den Arbeitsmarkt einzubinden sind, es schafft aber auch Probleme, weil diese Tätigkeiten in ihrer Produktivität oft keine auskömmliche Vergütung ermöglichen und unter Lohndruck geraten.
Auch das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hat sich im vergangenen Jahr damit beschäftigt, wie sich die Digitalisierung gesamtwirtschaftlich auswirkt. Laut IAB ist in Deutschland der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in einem Beruf mit hohem Substituierbarkeitspotenzial arbeiten, deren Jobs also von technischen Entwicklungen verdrängt werden könnten, zwischen 2013 und 2016 von circa 15 Prozent auf rund 25 Prozent gestiegen.
Und das war der Stand vor drei Jahren. Laut Umfrage des IAB werden 2035 rund 1,46 Millionen Arbeitsplätze im Vergleich zur Basisprojektion wegfallen. Auf der anderen Seite werden aber auch 1,4 Millionen Arbeitsplätze zusätzlich entstehen – mit neuen Anforderungen an Kompetenzen und Qualifikationen. Wer heute in eine Ausbildung startet, wird 2035 noch nicht einmal die Hälfte seines Berufslebens hinter sich haben. Wer weiß, welcher Qualifizierungsbedarf bis dahin auftaucht?
Was Mitarbeiter brauchen Als wichtigste Kompetenzen von Mitarbeitern, um die Beschäftigungsfähigkeit vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung und der damit einhergehenden Änderung der Arbeitsinhalte einzelner Berufe zu erhalten, werden von Unternehmensvertretern folgende Aspekte genannt:
- Fachkenntnisse
- IT-Grundkompetenz
- lebenslange Lernbereitschaft
- Lernfähigkeit
- Teamfähigkeit
Nebenbei bemerkt: Unternehmen, die in der Digitalisierung mitschwimmen, also in den vergangenen Jahren verstärkt in digitale Technologien investiert haben, tun sich bei der Qualifizierung offenbar leichter: Sie geben nicht nur mehr Geld für Weiterbildung aus, sondern Unternehmen mit hohem Digitalisierungsgrad setzen außerdem eher auf moderne Lernformen wie E-Learning.
Wenn es jetzt noch eines Belegs bedarf, wie wichtig Qualifizierung heute ist: Im Juni hat die Bundesregierung eine „Nationale Weiterbildungsstrategie“ beschlossen. Sie soll Maßnahmen bündeln, um „noch mehr Menschen die berufliche Teilhabe am digitalen Wandel zu ermöglichen“, schreibt das Bundesbildungsministerium. Um was geht es dabei? Qualifizierungsangebote transparent machen und weiterentwickeln, Beschäftigte motivieren und beraten – unter dem Strich: Weiterbildung fördern. Mit am Tisch saßen neben den einschlägigen Bundesministerien Wirtschaftsverbände – darunter der Industrie- und Handelskammertag – Gewerkschaften und die Bundesarbeitsagentur.
Ein zentrales Instrument des Bundes in diesem Zusammenhang ist das neue Qualifizierungschancengesetz. Es soll mehr Förderungen bieten für beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Jobs durch Technologien wegfallen könnten, die in anderer Weise vom Strukturwandel betroffen sind oder die sich in einem Engpassberuf weiterbilden wollen. Seit Januar ist das Gesetz in Kraft.
Das Gesetz kennt zum einen so genannte Anpassungsqualifizierungen. Dabei sollen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt werden, die über ausschließlich arbeitsbezogene Inhalte – zum Beispiel die Einarbeitung an einer neuen Maschine – hinausgehen. Außerdem werden nur Maßnahmen mit einer Dauer von mehr als 160 Unterrichtseinheiten gefördert und sie müssen nach der Akkreditierungs- und Zulassungsverordnung Arbeitsförderung (AZAV) zertifiziert sein. Die Lehrgangskosten werden dann abhängig von der Unternehmensgröße übernommen (vgl. Grafik oben). Auch ein Arbeitsentgeltzuschuss ist möglich. Dessen Höhe orientiert sich am Umfang der Arbeitsleistung, die durch die Teilnahme an der Weiterbildung nicht erbracht werden konnte. Um als Unternehmen Geld von der Arbeitsagentur zu bekommen, ist zuvor eine Beratung nötig, bei der auch geklärt wird, ob eine Maßnahme überhaupt förderfähig ist. Dazu gibt es die gebührenfreie Hotline des Arbeitgeber-Service: 0800-4-5555-20.
Darüber hinaus werden über das neue Gesetz abschlussorientierte Weiterbildungen gefördert. Die können, wie der Name schon sagt, zu einem anerkannten Berufsabschluss führen: Entsprechend richtet sich diese Möglichkeit an gering qualifizierte und ungelernte Beschäftigte. Gefördert werden können Umschulungen und Vorbereitungslehrgänge auf die Externenprüfung für solche Mitarbeiter, die zwar keinen Abschluss, aber eine gewisse Berufserfahrung haben, sowie außerdem die so genannten berufsanschlussfähigen Teilqualifikationen.
Teilqualifikationen spielen auch eine wesentliche Rolle bei der gerade ins Leben gerufenen Qualifizierungsoffensive des hannoverschen Technologieriesen Continental. Der will in einem eigens gegründeten Weiterbildungsträger Beschäftigte in Deutschland qualifizieren: Mit dem Continental Institute of Technology and Transformation (CITT) soll der Transformationsprozess gesteuert werden, in dem sich die Automobilbranche befindet. Zum Start des Projekts wies auch Continental-Personalvorstand Ariane Reinhart auf die allgegenwärtige Tendenz hin, dass einfache Tätigkeiten immer mehr durch komplexe Aufgaben ersetzt werden, die eine Ausbildung erfordern. Reinhart sieht aber auch die Beschäftigten in der Pflicht, denen mit dem Institut der Rahmen für eine eigenverantwortliche Entwicklung und den Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit geboten wird.
Nach und nach zum Abschluss
Continental will über das Institut Weiterbildungen in den Themenfeldern Industrie 4.0, neue Antriebskonzepte und Digitalisierung anbieten. Zunächst liegt der Fokus jedoch auf Un- und Angelernten. Zwischen 10 000 und 12 000 Continentäler sollen keinen qualifizierten Berufsabschluss haben. Sie gehören damit zur Zielgruppe für Teilqualifikationen und können nach und nach Berufsabschlüsse wie Verfahrensmechaniker/in für Kunststoff- und Kautschuktechnik und Mechatroniker/in erwerben. Um die Qualität der Qualifikationen durch IHK-Zertifizierungen und IHK-Abschlüsse zu sichern, wird das Vorhaben in enger Abstimmung mit der IHK Hannover durchgeführt. Hierfür hat es im Vorfeld mehrere Gespräche zwischen der IHK und Continental gegeben.
Ein Unternehmen, das sich in Sachen Teilqualifikation schon auf den Weg gemacht hat, ist Toyoda Gosei Meteor in Bockenem. Der Automobilzulieferer erwartet wie viele andere Veränderungen bei den im Unternehmen benötigten Kompetenzen der Mitarbeiter: In manchen Bereichen fallen Arbeiten weg, in anderen erwartet Meteor ein verstärktes Wachstum. Ziel ist es, die künftig in den Wachstumsbereichen benötigten Fachkräfte aus der eigenen Belegschaft zu gewinnen. Die Agentur für Arbeit war schnell von der Idee des Unternehmens überzeugt, Mitarbeitern, die bisher eher einfache Tätigkeiten in der Fertigung ausüben, mittels IHK-Teilqualifikationen zu einem Berufsabschluss als Maschinen- und Anlagenführer zu verhelfen. Solche qualifizierten Mitarbeiter werden zukünftig verstärkt bei Meteor gebraucht. Die Arbeitsplätze für Maschinen- und Anlagenführer sind daher deutlich sicherer: ein typischer Fall, in dem das Qualifizierungschancengesetz greift. Die Agentur für Arbeit übernimmt die kompletten Kosten der Qualifizierung, die anteilig bei einem Bildungsträger und im Unternehmen stattfindet. Auch alle durch die Teilqualifikationen anfallenden Kosten für die Beschäftigten werden übernommen sowie die Hälfte der Vergütung der Absolventen. Meteor stellt die Teilnehmer im Gegenzug für ihre Qualifizierung frei und zahlt die andere Hälfte des Gehalts. Zudem stellt das Unternehmen drei Mentoren, die sich um die Praxisanteile der Qualifizierung bei Meteor kümmern.
Für viele Teilnehmer ist es ungewohnt, plötzlich wieder zu lernen. Doch die Motivation in der ersten 15-köpfigen Qualifizierungsgruppe ist hoch. So wurde die aus einem praktischen und einem theoretischen Teil bestehende Kompetenzfeststellung der IHK Hannover nach der ersten Teilqualifikation von allen Teilnehmern mit Ergebnissen zwischen 80 und 90 Prozent bewältigt. Meteor würde auf diesem Weg gerne insgesamt 100 Beschäftigte bis hin zum IHK-Berufsabschluss qualifizieren.