Prof. Dr. Günter Hirth, IHK Hannover, kommentiert:
In Zeiten der Digitalisierung müssen die Belegschaften für die neuen Herausforderungen fit gemacht werden. Das ist unumstritten. Die Bundesregierung will dabei helfen: Das neue Qualifizierungschancengesetz bietet finanzielle Unterstützung, sowohl beim Nachholen eines Berufsabschlusses als auch bei Anpassungsqualifizierungen. Und angesichts der Konjunkturrisiken zieht man in Berlin schon den nächsten Pfeil aus dem Köcher: Ein Gesetz, das Weiterbildung bei Kurzarbeit unterstützt, ist in Arbeit.
Prima Ideen. Und beim Qualifizierungschancengesetz zurecht bereits mit reichlich Mitteln unterlegt. Allerdings sind, bevor Geld fließt, einschneidende Vorgaben einzuhalten: So müssen die so genannten Anpassungsqualifizierungen mehr als 160 Stunden umfassen. Sie müssen nicht nur über eine rein arbeitsplatzbezogene Qualifizierung hinausgehen, sondern zertifiziert sein. Diese Vorgaben könnten sich als zu starr erweisen. Unternehmen brauchen gerade jetzt individuelle, flexible Qualifizierungsangebote für ihre Mitarbeiter. Wer weiß heute schon, welche Anforderungen die Digitalisierung morgen stellt? Bis eine Maßnahme zertifiziert und damit förderfähig ist, sind vielleicht schon wieder andere Inhalte gefragt. Der Bedarf an Qualifizierung entwickelt sich sehr schnell und sehr individuell von Unternehmen zu Unternehmen. Dort weiß man am besten, was gerade gebraucht wird. Ob genau dieser Bedarf von einem förderfähigen Weiterbildungsangebot gedeckt wird, muss sich erst zeigen. Gerade Mittelständler werden nicht die Möglichkeit haben, eigene Konzepte zu entwickeln. Wer als Unternehmen keinen eigenen Weiterbildungsträger gründen kann, muss auf externe Anbieter zurückgreifen. Damit der überhaupt einen Lehrgang anbietet, müssen genug Teilnehmer zusammenkommen. Das könnte sich als Problem kleiner oder mittlerer Unternehmen vor allem im ländlichen Raum erweisen, wenn sie die Möglichkeiten des Qualifizierungschancengesetzes nutzen wollen. Das Gesetz ist ein guter erster Schritt, aber vor lauter Sorge vor „Mitnahmeeffekten“ so gestaltet, dass gerade spezifische Erfordernisse der Digitalisierung – Flexibilität und Geschwindigkeit – unberücksichtigt bleiben. Sinnvoll wäre es, wenn Unternehmen selbst individuelle Anpassungsqualifizierungen entwickeln könnten, deren Qualität aber natürlich geprüft werden müsste, bevor öffentliche Mittel fließen. Das könnte – um Compliance-Probleme zu vermeiden – durch externe, neutrale, sachverständige Stellungnahmen geschehen. Die Industrie- und Handelskammern kennen solche Verfahren gut: Öffentliche Finanzierungshilfen wie Bürgschaften werden regelmäßig nur nach Stellungnahme der zuständigen Kammer bewilligt. So könnte die Qualifizierungsförderung an Flexibilität gewinnen und passgenau in Unternehmen entwickelt werden.