Das APITs Lab soll Spieleentwickler und vor allem mittelständische Unternehmen in Niedersachsen zusammenbringen. Das Ziel: Technik aus der Gaming-Industrie für die Wirtschaft nutzbar zu machen. Die Voraussetzungen sind gerade in Hannover gut.
Nicht spielen – arbeiten: Wenn Tim Mittelstaedt im Mittelstand unterwegs ist, hört er das noch immer regelmäßig. Das liegt an seiner aktuellen Mission. Zusammen mit Anna Weisenberger vertritt er das APITs Lab in Hannover, das seit rund einem Jahr Entwickler aus der Gaming-Szene und Mittelständler zusammenbringen soll mit dem Ziel, Techniken aus Videospielen für Unternehmen nutzbar zu machen.
APIT – das steht für aplied interactive technologie, leicht zu übersetzen mit „angewandte interaktive Technologien“. Die Abkürzung ist nicht gerade gebräuchlich. „Wir hätten es auch Games Lab nennen können“, sagt Tim Mittelstaedt. Aber man muss ja die Vorbehalte nicht noch verstärken – die etwas sperrige Abkürzung APIT ist für ihn eine Art trojanisches Pferd, um die Tore in den Mittelstand leichter zu überwinden.
Dabei sind Computerspiele zweifellos ein Treiber der technischen Entwicklung. Eltern können ein Lied davon singen: Schon vor zehn oder vielleicht 15 Jahren haben vor allem Söhne (machen wir uns da nichts vor) die Aufrüstung des Familien-PCs gefordert, damit auch die neuesten oder zumindest neue Spiele darauf liefen. Um Texte zu schreiben und zu verwalten, brauchte man eine solche Rechenleistung jedenfalls nicht. Ganz wesentlich ging es um Grafikkarten – auch heute ein hoch entwickeltes und hoch leistungsfähiges Stück Hardware. So leistungsfähig, dass sie mittlerweile eine Rolle spielen als Grundlage für das sogenannte Deep Learning – also komplexe, maschinelle Lernvorgänge auf der Basis neuronaler Netze. Und damit für Künstliche Intelligenz. Die steht übrigens auch im Mittelpunkt der Serious Games Conference im Juni bei der Cebit in Hannover. Spieleentwicklung und Künstliche Intelligenz sind eng verflochten, schreiben die Organisatoren zur Begründung und weisen darauf hin, dass bereits vor zwei Jahren der weltbeste Go-Spieler von einer künstlichen Intelligenz geschlagen wurde. Die Vorherrschaft im Schach hat sich der Computer ja schon davor gesichert.
Aber Serious Games, ernsthaftes Spiel – ist das nicht schon ein Widerspruch in sich? Die Grenzen sind eben fließend. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die sich in ihrem Feuilleton seit geraumer Zeit mit neuen Videospielen auseinandersetzt, brachte es im Herbst vergangenen Jahres bei der Besprechung der aktuellen Fortsetzung des Klassikers „Assassin’s Creed“, der in historisch offenbar durchaus korrekter, altägyptischer Umgebung spielt, auf den Punkt: „Wäre das Gemetzel nicht, taugte es für den Unterricht.“ Das Spiel bringt genug mit, um damit – im Prinzip – lernen zu können.
Entlang solcher fließender Grenzen bewegt sich die Arbeit des APITs Lab: Niedersachsen spielend digitalisieren, das hat sich die bei der Nordmedia GmbH in Hannover angesiedelte Einrichtung, die im Auftrag des Wirtschaftsministeriums unterwegs ist, auf die Fahnen geschrieben. Nun ja, ganz spielerisch wird es nicht gehen. Visualierungstechniken, Hardware wie Brillen, Audiotechnik und natürlich Grafikkarten, Spielemechanik und Motivationsstrukturen oder Lernabläufe werden – auch – von Spieleentwicklern vorangetrieben. Unternehmen müssen die Möglichkeiten aber dann für sich entdecken. Tim Mittelstaedt und Anna Weisenberger sind unter anderem bei Veranstaltungen in Niedersachsen unterwegs, mit Beratungen und Entwicklungsworkshops. Und zeigen, was in der Spielewelt möglich ist. Zum Beispiel die Darstellung von Licht und Lichteffekten in einer dreidimensionalen Gaming-Landschaft – da brechen, wenn der Spieler sein digitales Alter Ego hochblicken lässt, Sonnenstrahlen durch die Blätter der Bäume. Solche Lichteffekte finden sich aber beispielsweise auch in der Architekturvisualisierung der hannoverschen GTVR Geßler und Thies Consulting GmbH. In den virtuellen Räumen kann man sich zudem mit seinem Avatar bewegen, wie in einem Videospiel. Damit ist man schnell bei Möglichkeiten für den Tourismus.
Ein weiterer Entwickler, ebenfalls in Hannover, die LocomotionVR: Spielerisch ist der Harry-Potter-Besen, ein den Fluggeräten aus der Romanverfilmung nachempfundener Sitz, auf dem man mittels VR-Brille virtuell fliegt. Oder mit einem Aufzug ganz noch oben auf ein Windrad fährt. Unterstützt wird beides unter anderem durch einen Ventilator: Man steht virtuell in 140 Meter und spürt den Wind. Eintauchen in die virtuelle Realität – Immersion nennt man das. So lassen sich zum Beispiel für Techniker die Verhältnisse oben auf einem Windrad simulieren. Sucht man nach Anwendung, geht der Blick, na klar, fast schon reflexartig in die USA. Tim Mittelstaedt nennt das Beispiel einer Fastfood-Kette. Die bringt neuen Mitarbeitern das Braten von Hähnchenteilen virtuell bei, mit VR-Brille und Handschuhen. Und nutzt dabei durchdachte Spiel- und Motivationsmechanismen. Insofern nicht überraschend, wenn virtuell ausgebildete Hähnchenzubereiter, so Mittelstaedt, auch schneller als ihre klassisch lernenden Kollegen sind.
Nicht nur zum Lernen, sondern auch für das Engineering nutzt die Lenze SE Virtual Reality. Für den Getriebe-Spezialisten ist sie ein Werkzeug, über dessen Ursprung in der Spielewelt man sich durchaus klar ist, und das die Aerzener bereits bei der Hannover Messe 2017 zeigten. Hoch auflösende VR-Brillen geben nicht nur Gamern einen Kick, sondern Virtual Reality bietet auch die Möglichkeit, immer komplexere Automatisierungszusammenhänge leichter zu beherrschen, hieß es damals. Lenze spricht von einem digitalen Zwilling, anhand dessen Programmierer und Ingenieure das, was sie sich ausgedacht haben, virtuell, quasi „live“, erleben können. Wobei die Betonung auf „erleben“ liegt – damit geht die virtuelle Realität über Simulationen und 3D-Modelle am Bildschirm hinaus. Und dieses Erleben ist unabhängig davon, wo die reale Maschine tatsächlich steht – was wiederum für Wartung und Reparatur neue Möglichkeiten eröffnet.
„Es rattert in den Köpfen“, sagt Tim Mittelstaedt, wenn Unternehmer bei Veranstaltungen des APITs Lab solche Möglichkeiten sehen, „das merkt man.“ Dieses Rattern zu erzeugen, ist auch eines seiner ersten Ziele: „Das Mind-Set der Leute ändern“ – für Mittelstaedt ein Schlüssel der Digitalisierung. Lernen und trainieren, entwickeln und konstruieren, reparieren und warten, darstellen und präsentieren. Virtuelle Realität, Augmented Reality, 3D-Welten, Interaktivität, Scoring. Und das in einer gerade in Hannover höchst lebendigen Entwicklerszene: Mittelstaedt sieht Niedersachsens Hauptstadt unter den Top-Standorten bundesweit. GTVR und LocomotionVR sind da nur Beispiele. Die Serious Games Conference findet mittlerweile zum 11. Mal in Hannover statt. Ein weiterer Treffpunkt ist die HannoVR, die sich schlicht Deutschlands größte Virtual-Reality-Konferenz nennt und wieder im September stattfindet. Dann kommen, laut Selbstbeschreibung, Nerds, Enthusiasten, Unternehmer, Developer, Designer und „VReunde“ zusammen. APITs Lab ist dabei, denn genau das ist seine Aufgabe: Zusammenbringen, Kontakte herstellen, das Thema bekannt machen. Kaum etwas betont Mittelstaedt so wie die Chancen, die entstehen, „wenn andere auf Probleme blicken.“ Zum Beispiel Spieleentwickler auf das, was Unternehmen brauchen, sich aber nicht vorstellen können. Dabei ist vieles bereits möglich, „kein Hexenwerk, sondern Realität.“
Nicht spielen – arbeiten: Die Digitalisierung übrigens schert sich um solche Unterscheidungen nicht. Sondern fragt nur: Wozu kann man das gebrauchen?